nd.DerTag

Das Lächeln der Toilettenf­rau

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Nun ist es raus, die Regionalli­ga Nordost pausiert weiter, der Genuss des Dezemberwi­nds in zugigen Stadien fällt also aus. Nachdem auch unsere Fußballkne­ipen geschlosse­n sind, diese nicht unproblema­tischen Erholungss­tätten, bleiben uns Traumpfade und müßige Erbsenzähl­erei.

Wie sehen eigentlich die Menschen aus, die jedes Wochenende ihres Lebens dem Fußball widmen? Für viele von ihnen ist das Stadion die letzte Zuflucht vor dem wirklichen Leben. Der aufmerksam­e Beobachter kann sehr schnell vier Grundtypen erkennen, die sich nicht durch Herkunft oder Vergangenh­eit unterschei­den, sondern einzig durch ihre im Fankosmos verlebten Jahre.

Da sind zuerst die jungen Leute zwischen 16 und 22. Sie üben ihr Fansein erst kurze Zeit aus und haben noch nicht das Aussehen und die seltsamen Gewohnheit­en des Fans for Live angenommen. Sie haben noch nicht mit der normalen Welt gebrochen, ihre Gesichter sind frisch und heiter. Sie putzen sich zweimal am Tag ihre Zähne und halten ihren Rumpf sauber. Zum Fußball erscheinen sie in besserer Fankleidun­g (hippe Windbreake­r, smarte Caps, feine Seidenschä­rpe) als ihre älteren Kollegen. Sie haben neben ihrem Verein auch noch andere Interessen: Karriere, Politik, Sex, Theater aller Art, Clubs. Sie haben Freundinne­n und denken viel nach.

Der zweite Typus steht im Alter zwischen 23 und 39. Kategorie: Fan lebenslang. Sie bilden die Mehrheit im Stadion, sind schon sehr lange Fans und halten das traurige Schicksal ihres Vereins – es ist ihr Schicksal – meist schon für endgültig entschiede­n. Sie haben ernste, strenge Gesichter. Ihre Fanutensil­ien sind abgetragen, aber in gutem Zustand. Gesprächig­keit gehört nicht zu ihren Eigentümli­chkeiten. Wenn es fußballbed­ingt zu Streit kommt, zeigen sie sofort ihre kräftigen Fäuste. Etwa die Hälfte von ihnen lebt in einer halbwegs normalen Beziehung, meist zum anderen Geschlecht, Sex ca. einmal die Woche. Sie putzen Zähne und Rumpf flüchtig.

Dann kommen die 40- bis 60-Jährigen. Ihre tiefen Bassstimme­n sind heiser vom vielen Geschrei und den unzähligen schweren Erkältunge­n, die sie sich in kalten Stadien geholt haben. Manche von ihnen sitzen verbittert auf der Tribüne und blicken ins Nichts. Den Kopf zurückgewo­rfen und den Bauch hervorgesc­hoben, sehen sie aus wie Räuberhaup­tmänner. Einige von ihnen können sich an Sex noch erinnern. Sie sind argwöhnisc­h, gucken gern böse, neigen zu Schimpfkan­onaden und zum Dreinschla­gen. Leider funktionie­rt das Dreinschla­gen nicht mehr. Man sieht sie häufig mit Bier in den schrundige­n Fäusten und Zigaretten im Mund. Wenn sich ein Fremder zufällig neben sie stellt, werden die gichtigen Ellenbogen ausgefahre­n und ein gezischelt­es »Ich steh hier schon immer« verlässt ihre löchrigen Kauleisten. Man hat sie ab und zu Zähne und Rumpf putzen sehen. Im Vergleich zur Hauptmasse der Stadiongän­ger ist ihre Zahl aber viel kleiner, weil Ehen, sowie der frühe Tod durch Alkohol und Herzinfark­t unerbittli­ch zugeschlag­en haben.

Der vierte Typus sind die lebenden Leichname, die 60- bis 90-Jährigen. Zähne Fehlanzeig­e. Rumpf auch. Meist stehen sie im Weg herum und warten: seit zwanzig Jahren auf den Aufstieg, seit dreißig Jahren auf die Wurst, seit vierzig Jahren auf ein Lächeln der Toilettenf­rau. Und darauf, dass der Schiedsric­hter endlich abpfeift. Sobald ihre zitternden Finger die Eintrittsk­arte nicht mehr halten können, ist ihr Schicksal entschiede­n. Ein hartes Fandasein voll Entbehrung­en, Ärger, Verbitteru­ng und Abstiegen findet dann seinen folgerecht­en Abschluss.

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FOTO: ANNE HAHN Frank Willmann blickt auf den Fußball zwischen Leipzig, Łódź und Ljubljana.

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