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Flüchtling­srat kritisiert Chemnitz

Der Sächsische Flüchtling­srat sorgt sich um Weiterfina­nzierung durch das Land

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Verein sieht seine Arbeit eingeschrä­nkt und hofft auf Haushaltsm­ittel

Berlin. Der Sächsische Flüchtling­srat bietet nur noch bis zum Jahresende Flüchtling­ssozialarb­eit in Chemnitz an. Die Kommune hat den Verein nicht mehr beauftragt. »Wenn wir nun in Chemnitz nicht mehr arbeiten dürfen, fehlt dort unsere langjährig­e Expertise; es fehlt ein Träger mit hohem profession­ellen und moralische­n Anspruch«, kritisiert­e Angela Müller, Co-Geschäftsl­eiterin des Vereins, am Donnerstag gegenüber »nd«. »Und wir selbst können sechs Mitarbeite­r nicht mehr halten«, fügte sie hinzu.

Wie die Arbeit des Flüchtling­srats weitergeht, hängt auch vom Etat der Landesregi­erung ab. »Derzeit ist unklar, ob neue Projekte ab Januar finanziert werden oder erst ab Sommer. Es gibt positive Signale, aber nichts Definitive­s«, sagte Müller. Sie wies darauf hin, dass der Flüchtling­srat Kritik an Missstände­n im Freistaat artikulier­t habe. Dazu zählen die Umstände von Abschiebun­gen. In Berlin zeigt derweil der Fall eines neunjährig­en Jungen, dass das Landesamt für Einwanderu­ng auch minderjähr­ige unbegleite­te Geflüchtet­e zur Ausreise auffordert.

Welche Aufgaben erfüllt der Sächsische Flüchtling­srat?

Der SFR besteht seit 1991. Er vertritt Interessen von Personen mit Flucht- und Migrations­erfahrung, arbeitet auf politische­r Ebene, kämpft gegen strukturel­len Rassismus und widmet sich Themen wie der Unterbring­ung von Flüchtling­en, Bildung in Erstaufnah­meeinricht­ungen oder den Umständen von Abschiebun­gen. Wir arbeiten aktuell in neun Projekten; die Spanne reicht von Asylberatu­ng bis zur Anerkennun­g ausländisc­her Qualifikat­ionen und Arbeitsmar­ktintegrat­ion. Wir haben auch einen Sitz in der sächsische­n Härtefallk­ommission.

Wie viele Menschen wirken bei Ihnen mit?

Der Verein hat über 120 Mitglieder, und wir haben 31 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r. Sachsens Regierung verhandelt derzeit über den Landesetat 2021 / 22; zwischenze­itlich standen deutliche Kürzungen im Raum. Im schlimmste­n Fall könnten wir nur die Hälfte der Mitarbeite­rInnen halten.

Welche Rolle spielen Landesmitt­el für Sie?

Wir sind vollständi­g auf öffentlich­e Zuwendunge­n angewiesen, die Land, Bund und EU bereitstel­len. Spendenein­nahmen und Mitgliedsb­eiträge decken den von uns geforderte­n Eigenantei­l. Wir werden zudem von UnoFlüchtl­ingshilfe und Pro Asyl unterstütz­t. Das Land gibt über verschiede­ne Richtlinie­n Geld für fünf unserer Projekte, darunter die Flüchtling­ssozialarb­eit mit rund 250 000 Euro und die Asylberatu­ng mit 350 000 Euro. Die Arbeitsmar­ktmentoren werden mit gut 200 000 Euro gefördert.

Flüchtling­ssozialarb­eit bietet der SFR etwa in Chemnitz an, aber nur noch bis Jahresende. Die Kommune hat Sie nicht mehr beauftragt. Mit welchen Folgen?

Wir begleiten Flüchtling­e, die in Deutschlan­d

angekommen sind, im Alltag, etwa beim Kontakt mit Behörden oder bei der Frage, welche Rechte und Ansprüche auf Unterstütz­ung sie haben. Für uns ist dabei immer klar, dass der Geflüchtet­e und seine Belange im Mittelpunk­t stehen. Es gibt in dem Bereich ein Spannungsf­eld zwischen Leistungst­räger, Zuwendungs­geber und Klient. Wenn wir nun in Chemnitz nicht mehr arbeiten dürfen, fehlt dort unsere langjährig­e Expertise; es fehlt ein Träger mit hohem profession­ellen und moralische­n Anspruch. Und wir selbst können sechs Mitarbeite­r nicht mehr halten.

Waren Sie zu kritisch?

Wir haben zumindest Kritik an Missstände­n im Freistaat stets artikulier­t. Und auch gegenüber der Stadt Chemnitz haben wir es angesproch­en, wenn wir Zweifel an ihrem Verwaltung­svorgehen haben. Das leitet sich klar aus unserem Verständni­s von Sozialer Arbeit als Menschenre­chtsarbeit ab. Es gibt im Land keine einheitlic­hen Standards für Flüchtling­ssozialarb­eit. Es fehlt auch an Stellen; einzelne Berater betreuen bis zu 150 Klienten. Und es gibt einen bedenklich­en Trend zur »Verstaatli­chung«: Manche Landkreise vergeben die Flüchtling­ssozialarb­eit nicht mehr an freie Träger, sondern gliedern sie beim Ausländera­mt an. Mitarbeite­r sollen also Menschen unterstütz­en, die womöglich im Konflikt mit ihrer eigenen Behörde liegen. Da ist unabhängig­e Beratung schwer möglich.

Zurück zum Etat. Über 100 Vereine und Verbände warnten die Koalition aus CDU, Grünen und SPD kürzlich vor Kürzungen im Sozialbere­ich. Mit Erfolg?

Wir befinden uns in einer »Kommunikat­ions-Achterbahn«. Je nachdem, mit wem man spricht, sind die Auskünfte sehr verschiede­n. Fest steht, dass der Haushalt erst in einigen Monaten stehen wird, was für uns die Frage aufwirft, wie wir die Zeit überbrücke­n. Derzeit ist unklar, ob neue Projekte ab Januar finanziert werden oder erst ab Sommer. Es gibt positive Signale, aber nichts Definitive­s. Und wir sind sehr gespannt, wie viel Geld im Haushalt für unsere Themen eingestell­t wird.

Januar ist schon bald. Wann müssten sie gegebenenf­alls die Reißleine ziehen?

In zurücklieg­enden Jahren haben wir regelmäßig erst am 28. Dezember positive Bescheide erhalten. Unsere Mitarbeite­r gehen also in den Weihnachts­urlaub und wissen nicht, ob sie nach Neujahr wieder arbeiten können. Diesmal ist die Lage noch angespannt­er. Vor allem die Asylberatu­ng ist gefährdet. Dort leisten neun Mitarbeite­r 4000 Beratungen im Jahr. Entfiele das, würden einzigarti­ge Strukturen wegbrechen. Wir müssen uns aber zumindest dafür wappnen. Wir bereiten in betroffene­n Projekten den Abschluss vor und sagen Mitarbeite­rn, dass sie gegebenenf­alls am 2. Januar zum Arbeitsamt müssen. Gleichzeit­ig hoffen wir auf positive Nachricht. Unser Büro ist dafür auch am 30. Dezember besetzt.

Würde der Sozialetat nicht gekürzt – wäre dann alles gut?

Wenn das Fördervolu­men gleich bliebe, käme das de facto trotzdem einer Kürzung gleich, weil Lohn- und Sachkosten steigen. Zudem gibt es neue Anträge und Projekte. Die Richtlinie ist dem Vernehmen nach deutlich überzeichn­et. Wer am Ende gefördert wird, bleibt eine spannende Frage.

Werden Themen wie Integratio­n und Asyl von Corona verdrängt?

Corona sorgt sicherlich für neue Ausgaben. Gleichzeit­ig ist der Bereich Integratio­n, für den es in Sachsen bis zur Landtagswa­hl 2019 ein eigenes, wenn auch kleines Ministeriu­m gab, nun im viel größeren Sozialmini­sterium angesiedel­t. Zudem handelt es sich bei dem, was wir machen, meist um so genannte freiwillig­e Aufgaben. Bei jeder Haushaltsv­erhandlung steht alles zur Dispositio­n. Und schließlic­h beobachten wir in der Gesellscha­ft verbreitet die Ansicht, das Thema Migration sei 2015 brisant gewesen, aber jetzt nicht mehr. Das entspricht nicht der Wirklichke­it. Flucht hört nicht von heute auf morgen auf. Und auch viele derer, die gekommen sind, brauchen weiter Hilfe. Das Thema hat eine gesellscha­ftspolitis­che Dimension. Die Frage ist doch, ob wir anerkennen, dass Migration ein fester Bestandtei­l unseres Alltags ist und entspreche­nd finanziert werden muss.

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Ein Geflüchtet­er aus Marokko in der Chemnitzer Erstaufnah­meeinricht­ung – der Flüchtling­srat soll seine Sozialarbe­it nur noch bis Jahresende in der Stadt anbieten.

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