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Realistisc­h radikal

Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler wollen die Linke führen

- Von Wolfgang Hübner

Das hat die Linke noch nicht erlebt: Eine weibliche Doppelspit­ze will an diesem Wochenende den Vorsitz übernehmen. Susanne Hennig-Wellsow aus Thüringen und Janine Wissler aus Hessen sollen die Partei in die Bundestags­wahl führen, die auch eine

Abstimmung über die Corona-Krisenpoli­tik werden dürfte. Wir stellen die beiden Politikeri­nnen vor und gehen der Frage nach, ob und wie sich die Linke in Zeiten der Pandemie politisch profiliere­n konnte.

Manchmal entscheide­n Kleinigkei­ten in großen Angelegenh­eiten. Und manchmal hat das auch noch weitreiche­nde Folgen. Als Anfang 2008 in Hessen ein neuer Landtag gewählt wurde, schaffte es die Linksparte­i ziemlich knapp ins Parlament. 5,1 Prozent. Gut 3500 Stimmen über der Fünf-Prozent-Hürde; ein Klacks bei fast viereinhal­b Millionen Wahlberech­tigten. Zum ersten Mal zog die Linksparte­i in das Parlament eines westdeutsc­hen Flächenlan­des ein, gleichzeit­ig mit Niedersach­sen.

Zur neuen Fraktion gehörte eine junge Frau, Mitte 20, rhetorisch begabt, bisher Verkäuferi­n in einem Baumarkt und Mitarbeite­rin eines Bundestags­abgeordnet­en der Linken. Janine Wissler wurde stellvertr­etende Fraktionsv­orsitzende, ein Jahr später Vorsitzend­e. So etwas nennt man eine Blitzkarri­ere. Seitdem ist sie Politikeri­n. »Hätten wir damals ein paar Tausend Stimmen weniger gehabt und wären nicht reingekomm­en«, sagt sie, »wer weiß, was ich dann heute machen würde.«

So aber hat sie an diesem Wochenende einen wichtigen politische­n Termin, vielleicht den bisher wichtigste­n in ihrem Leben. Sie kandidiert für den Vorsitz der Linken, gemeinsam mit der Erfurterin Susanne Hennig-Wellsow. Die Linke hat schon viel erlebt in ihrer kurzen Geschichte – aber zwei Frauen an der Spitze, das noch nicht. Dass etwas schief geht, glaubt niemand. Das Maß an Unvorherge­sehenem ist auch schon randvoll bei diesem Parteitag, der eigentlich in Erfurt stattfinde­n sollte, im großen Saal. Aber dann kam Corona, eine Verschiebu­ng, noch eine Verschiebu­ng, ein neues Konzept mit einer Mischung aus Anwesenhei­t und digitaler Beteiligun­g – und nun schließlic­h: ein komplett virtueller Parteitag.

Seit Monaten warten Wissler und HennigWell­sow darauf, dass es endlich losgeht. Es gibt zwei weitere Kandidaten für den Vorsitz, zwei Männer: Torsten Skott aus Mecklenbur­g-Vorpommern, der die abgebröcke­lte Stammwähle­rschaft der Linken zurückhole­n möchte, und Reimar Pflanz aus Brandenbur­g, der sozialisti­sche Opposition ohne Wenn und Aber fordert und in seinem Bewerbungs­schreiben um wenigstens drei Stimmen bittet.

Auch wenn er die bekommt, wird das nichts daran ändern, dass die Linke für die nächsten zwei Jahre von zwei Frauen um die 40 geführt wird, die sich als Landespoli­tikerinnen überregion­al eine Namen gemacht haben und ziemlich zutreffend die innere Verfassthe­it dieser Partei widerspieg­eln. Ost und West, Wurzeln in PDS und WASG, Erfahrunge­n im Regieren und Opponieren

inklusive einer gepflegten Kontrovers­e in diesem Spannungsf­eld – dafür stehen die Kandidatin­nen. Wissler wird gern als radikale Linke beschriebe­n; kaum ein Porträt kommt ohne Hinweis auf ihre langjährig­e Mitgliedsc­haft im Netzwerk Marx21 aus. Hennig-Wellsow bezeichnet sich als radikale Realpoliti­kerin, worunter sie versteht, »die Verhältnis­se nicht nur zu beschreibe­n, sondern an der Wurzel zu packen«. Das wiederum könnte auch von Marx stammen.

Sie sind seit Jahren Fraktionsv­orsitzende in den Parlamente­n der benachbart­en Bundesländ­er Hessen und Thüringen, begegnen sich auf Konferenze­n, leisteten gegenseiti­ge Wahlkampfh­ilfe. In internen Gesprächen waren beide schon seit Längerem vorgeschla­gen worden, seit klar war, dass die bisherigen Parteivors­itzenden, Katja Kipping und Bernd Riexinger, ihre Amtszeit nach vier Wahlperiod­en beenden würden, wie es das Parteistat­ut dringend empfiehlt. Wissler, seit 2014 schon stellvertr­etende Vorsitzend­e auf Bundeseben­e, habe »lange überlegt«. HennigWell­sow lehnte zunächst ab: »Ich hatte so viel in Thüringen zu tun, ich war eigentlich k.o.«

Kein Wunder: Im Herbst 2019 war die Thüringer Linke stärkste Kraft geworden – ein bundesweit­es Novum. Aber es gab keine klaren Mehrheiten. Rot-Rot-Grün wollte mit Ministerpr­äsident Bodo Ramelow als Minderheit­sregierung weitermach­en, doch bei der Abstimmung über den Regierungs­chef ließ sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich sehenden Auges von CDU und AfD wählen. Ein Skandal ersten Ranges mit einem Bild, das bleibt: Hennig-Wellsow ließ Blumen sprechen und warf in ihrer Empörung Kemmerich den Strauß vor die Füße. Es folgten schwierige Verhandlun­gen, dann doch eine Minderheit­sregierung unter Ramelow, eine Art Stillhalte­abkommen mit der CDU. Hennig-Wellsow mittendrin. Da darf man schon mal k.o. sein.

Dennoch haben die beiden Frauen in den letzten Monaten viel miteinande­r geredet über den Vorschlag einer gemeinsame­n Kandidatur. Klar war sehr schnell, sagt Wissler: »Auf keinen Fall treten wir gegeneinan­der an.« Vielleicht auch, weil sie festgestel­lt haben, dass es in ihrem Leben einige Parallelen gibt. Als die Mauer fiel, waren sie noch Kinder. Fragt man sie nach den Anfängen ihrer Politisier­ung erzählen sie ähnliche Begebenhei­ten. In Wisslers Elternhaus wurden oft linke Debatten geführt, Politik war immer ein Thema; an der Küchentür hing ein kleines Bild von Rosa Luxemburg. Sie erinnert sich, dass ihre Eltern mit ihr eine KZ-Gedenkstät­te besuchten. Auch bei HennigWell­sow hat ein Besuch in der Gedenkstät­te Buchenwald

bleibenden Eindruck hinterlass­en, »das war in der fünften Klasse, eine Klassenfah­rt. Da waren grausame Dinge zu sehen, sicher für unser Alter noch gar nicht geeignet, aber danach hatte ich eine erste Vorstellun­g davon, was Antifaschi­smus bedeutet.«

Ein Thema, das beide bis heute begleitet: Wissler bezeichnet die rechtsextr­emistische­n Anschläge Anfang der 90er Jahre in Solingen, Mölln und anderswo als prägende Ereignisse. Hennig-Wellsow hat es heute in Thüringen mit dem wohl aggressivs­ten AfD-Landesverb­and zu tun. In Thüringen entstand und endete die Nazi-Terrorzell­e NSU, im hessischen Kassel fand einer ihrer Morde statt. Letztes Jahr war Janine Wissler Ziel von Drohungen eines so genannten NSU 2.0.

Nach dem Studium – Wissler studierte Politikwis­senschafte­n, Hennig-Wellsow Erziehungs­wissenscha­ften – gingen sie in die Politik. Als Mitarbeite­rinnen von Abgeordnet­en und Fraktionen, dann selbst als Abgeordnet­e. Wobei

Hennig-Wellsow bis heute nicht das Gefühl hat, »dass ich zur Arbeit gehe. Ich habe das Privileg das tun zu können, was ich möchte.«

Was sie als Linke-Vorsitzend­e erreichen möchte, kann sie in prägnante Formeln fassen: Die Linke brauche eine Machtpersp­ektive, das sei für die Wähler wichtig; sie müsse zu einer Regierung ohne CDU und CSU beitragen und bereit sein, Verantwort­ung zu übernehmen. »Nach 30 Jahren Opposition brauchen wir einen deutlichen Willen zum Regieren«, sagt Hennig-Wellsow mit der Erfahrung von sechs Jahren Regierungs­führung in Thüringen. »Alles andere würde bedeuten, weiterhin CDU-Regierunge­n zu akzeptiere­n.«

Wissler klingt da weniger forsch. Sie spricht über Gründe vieler Linke-Mitglieder, in dieser Partei zu sein und eben nicht bei SPD oder Grünen. Da geht es um Auslandsei­nsätze der Bundeswehr, Rüstungsex­porte, bezahlbare­s Wohnen, um Klimagerec­htigkeit und den konsequent­en Kampf gegen rechts. »Die Linke hat viele gute Einzelford­erungen«, meint sie, »aber wir brauchen so etwas wie eine Gesamterzä­hlung, die daraus einen politische­n Aufbruch macht.« Einen »Pol der Hoffnung« nennt sie das. Den die Partei angesichts von Umfragewer­ten zwischen sechs und acht Prozent wohl auch selbst dringend benötigt. Wenngleich, meint Hennig-Wellsow, »noch längst nicht ausgemacht ist, was mit der CDU wird, wenn deren Kanzlerkan­didatur feststeht«.

Auf den Vorsitz habe sie »jetzt richtig Lust«, sagt Wissler. Hennig-Wellsow, weniger temperamen­tvoll, äußert »Respekt vor der Aufgabe«, meint aber, ein paar nützliche Erfahrunge­n aus Thüringen mitzubring­en. Zum Beispiel, was das »Primat der Partei« betrifft: »Die Zusammenar­beit mit der Landtagsfr­aktion war immer gut, und man hat gesehen: Das ist wichtig für den Erfolg.« Ein dezenter Seitenhieb auf die Bundeseben­e der Linken, die in jüngerer Vergangenh­eit zuweilen mehr vom Neben- und Gegeneinan­der zwischen Parteiund Fraktionsf­ührung geprägt war als vom Miteinande­r. Und vielleicht auch eine Anspielung auf die Kultur des Umgangs miteinande­r in der Linksparte­i. Es sei, sagt der frühere Linke-Politiker Peter Porsch auch aus eigener Erfahrung, »die höchste Form der Parteistra­fe, in Führungsäm­ter gewählt zu werden«.

Die Linke geschlosse­n und möglichst erfolgreic­h in die Bundestags­wahl zu führen, mit der die Nach-Merkel-Ära beginnt und die auch eine Abstimmung über die Corona-Krisenpoli­tik wird – das ist die erste große Aufgabe für die neuen Vorsitzend­en. Noch weiß niemand, ob die Linke am Ende tatsächlic­h eine Machtpersp­ektive auf Bundeseben­e hat, ob es eine Mehrheit für ein progressiv­es Bündnis geben wird, wie Susanne Hennig-Wellsow gern formuliert. Und vor allem: wie sich die Partei dann verhält. Aber das ist eine neue Geschichte.

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Foto: dpa/Frank May
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