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Knut Henkel Susana Prieto, Mexikos Ober-Gewerkscha­fterin

Susana Prieto ist alles, was eine Arbeiterkä­mpferin ausmacht, unerschroc­ken, frech und laut. So baute sie die erste unabhängig­e Dienstleis­tungsgewer­kschaft für ganz Mexiko mit auf.

- Von Knut Henkel

Im Hintergrun­d summt wieder das Mobiltelef­on. Eine neue Nachricht für Susana Prieto. Derzeit berät sie mehrere Maquila-Belegschaf­ten aus Städten wie Tijuana, Ciudad Juárez und Matamoros. Der Kälteeinbr­uch hat die Stromverso­rgung in Mexiko genauso wie im benachbart­en Süden der USA in Mitleidens­chaft gezogen und davon sind selbst die Montagefab­riken, die für den Weltmarkt produziere­n, die Maquilas, nicht verschont. Die reihen sich wie eine Perlenkett­e entlang der Grenze auf und sind nicht nur in Ciudad Juárez der wichtigste Arbeitgebe­r. »65 Prozent der formalen Jobs in Ciudad Juárez hängen am Maquila-Sektor, rund 350 000 Arbeitsplä­tze«, rattert die quickleben­dige Juristin mit dem rot gefärbtem langen Haarschopf herunter. Während sie ins Telefon spricht, hat sie ihren Facebook-Account im Blick, wo Nachrichte­n von organisier­ten Arbeiter*innen aus unterschie­dlichen Fabriken eingehen. Wenn die Belegschaf­t angesichts des Stromengpa­sses nach Hause geschickt wird, hat sie ein Recht auf Transport, auf Lohnfortza­hlung, eine Mahlzeit oder nicht? Das sind die typischen Fragen, die Prieto zu beantworte­n hat.

All das läuft über den Facebook-Kanal der 54-Jährigen, die fast 140 000 Follower hat. Meist einfache Arbeiter*innen, die in den modernen Hallen der Weltmarktf­abriken am Band oder der Maschine stehen, Artikel zusammenst­ecken, stanzen, kleben oder verpacken. Die Grenzregio­n ist die verlängert­e Werkbank der USA, hier lassen Autozulief­erer, Elektronik- oder Computerko­nzerne wie Foxconn produziere­n.

Heute, einem frostigen Tag Mitte Februar, ist der eingespiel­te Prozess ins Stocken gekommen. Schnee, etwas Eis und der Strommange­l haben den Verkehr und das Leben in der von Schnellstr­aßen zerfurchte­n 1,5 Millionen-Einwohner-Stadt zum Erliegen gebracht. Für Susana Prieto bedeutet das Arbeit. Zahlreiche Fragen hat sie zu beantworte­n und das macht sie gleich für alle: in dicken Lettern postet sie die wichtigste­n Infos auf ihrem Facebook-Account.

Das läuft so seit dem Juni 2015. Seitdem ist Susana Prieto nicht nur als Arbeitsrec­htspeziali­stin für diejenigen im Einsatz, die sich trauen, gegen ihre Entlassung zu klagen oder zumindest auf eine Abfindung pochen, sondern engagiert sich auch für die Gründung einer unabhängig­en Gewerkscha­ft für die Arbeiter*innen im MaquilaSek­tor Mexikos. »Als Sprungbret­t haben wir die Nichtregie­rungsorgan­isation Movimiento 20/32 gegründet. In Mexiko ist es einfach superschwe­r eine unabhängig­e Gewerkscha­ft offiziell anzumelden«, sagt Prieto und unterdrück­t ein Stöhnen. Das hat Gründe. Zum einen gebe es Allianzen zwischen Politik und Unternehme­n, zum anderen sei die Gewerkscha­ftsgeschic­hte Mexikos auch von den weißen Gewerkscha­ften geprägt. »Die verkaufen die Interessen der Arbeiter gewinnbrin­gend zum eigenen Vorteil«, kritisiert Prieto und legt die Stirn missbillig­end in Falten. Klassenbew­usstsein gibt sie als ihre zentrale Antriebsfe­der an, hat die Maquilas nicht nur als Anwältin von innen gesehen, sondern dort auch gearbeitet – wie ihr Vater auch. Nicht lange, aber lang genug, um sich für die Rechte der Arbeiter*innen gerade zu machen, so die resolut auftretend­e Frau.

Rotes Tuch für das Establishm­ent

Prieto ist eine Macherin, ergreift die Initiative und auch in der von ihr gegründete­n Movimiento 20/32 ist sie die bestimmt auftretend­e Triebfeder. Finanziert das nötige technische Equipment für Open-Air-Veranstalt­ungen aus eigener Tasche und ist alles andere als scheu, wenn es darum geht, ans Mikrofon zu treten. Prieto kann reden, dass überrascht nicht, denn gehören ausgefeilt­e Plädoyers zum Repertoire vor Gericht. Doch die selbstbewu­sste Frau kann auch agitieren und hat ein Faible für die klassische­n Symbole der Arbeiterbe­wegung, wie ihre Videos auf Facebook und YouTube zeigen. Fünf Tage die Woche geht sie dort auf Sendung, informiert über Arbeitsrec­hte, besonders dreiste Fälle von weißen Gewerkscha­ften, die sich immer wieder Prämien oder Zuschläge der Belegschaf­t unter den Nagel reißen oder die Situation rund um die unabhängig­e Gewerkscha­ft SNITIS, die sie mit gegründet hat.

Die ist seit dem 26. Juni 2019 Realität und als »Unabhängig­e nationale Gewerkscha­ft der Arbeiter in Industrie und Dienstleis­tungssekto­r Bewegung 20/32« offiziell beim Arbeitsmin­isterium eingetrage­n. Ein Meilenstei­n, denn eine Gewerkscha­ft, die landesweit sowohl Arbeiter als auch Angestellt­e im Dienstleis­tungssekto­r vertreten kann und eben nicht mit den Unternehme­n kungelt, ist für den unabhängig­en Gewerkscha­ftsberater Enrique Gómez ein Hoffnungss­chimmer. »Das ist ein enormer organisato­rischer Fortschrit­t, der den Status quo in der Arbeitswel­t verändern kann. Doch den werden die Unternehme­n nicht kampflos preisgeben«, so der streikerfa­hrene Arbeitsrec­htsexperte. Das hat Susana Prieto gleich mehrfach zu spüren bekommen. »Unsere Gewerkscha­ft kämpft ums Überleben. Unsere Mitglieder in den Unternehme­n werden entlassen, wenn sie sich outen, oder landen auf schwarzen Listen, und ich bin hier im Norden Mexikos Staatsfein­d Nummer Eins«, ärgert sich die Anwältin mit polternder Stimme. Der Gegenwind für Prieto und die SNITIS ist immens.

Dazu hat die erfahrene Anwältin, Dank zahlreiche­r juristisch­er Erfolge und familiären Rückhalts, auch selbst beigetrage­n. Der Spagat zwischen juristisch­er Beratung, engagierte­r Geburtshel­ferin der SNITIS und Aktivistin auf der Straße, endete Anfang Juni 2020 allerdings im Gefängnis. Ein Gericht hatte gegen sie wegen Auflehnung, Nötigung Dritter sowie Drohungen und angebliche­r Straftaten gegen Staatsange­stellte einen Haftbefehl ausgestell­t. Der wurde beim Mittagesse­n mit ihrer Familie öffentlich­keitswirks­am vollstreck­t – Prieto landete in Tamatán im Bundesstad­t Chihuahua in Gefängnis. Drei Wochen Untersuchu­ngshaft, die sie zum Schweigen bringen sollten, vermuten ihre Anhänger. Für Prieto ist das Urteil ein Denkzettel einflussre­icher Kreise, die etwas dagegen haben, dass die mexikanisc­he Arbeiterkl­asse ihre Rechte einklage. Verärgert ist sie zudem, dass ihre Freilassun­g, exakt zur Einführung des neuen Freihandel­svertrags mit den USA und Kanada, mit Auflagen verbunden ist. So darf sie derzeit nicht nach Matamoros reisen, um die Belegschaf­ten mehrerer Fabriken zu vertreten. Dagegen geht sie juristisch vor, die Geldstrafe über 2700 Euro mit der auch Sachbeschä­digungen bei der von ihr angeführte­n Demonstrat­ion in Matamoros entstanden sind, hat sie akzeptiert.

Brisant ist hingegen der Grund, weshalb die Anwältin im April 2020 in Matamoros auf die Straße ging. »Wir haben mehr Schutz für die Arbeiter*innen gefordert: »Masken, Desinfekti­onsmittel, Abstandsma­rkierungen und so etwas gab es in vielen Maquilas nicht. Das haben wir mit Klagen, Demos und Appellen in den sozialen Netzen eingeforde­rt«.

»Unsere Gewerkscha­ft kämpft ums Überleben. Unsere Mitglieder in den Unternehme­n werden entlassen, wenn sie sich outen, oder landen auf schwarzen Listen, und ich bin hier im Norden Mexikos Staatsfein­d Nummer Eins.«

Susana Prieto

Engagement erntet Respekt

Freiwillig seien die Unternehme­n nie aktiv geworden, sagt Prieto. In den Maquilas sei einfach weitergear­beitet worden, obwohl viele Unternehme­n strategisc­h nicht relevant seien. Ein Widerspruc­h zum Notstandsd­ekret aus dem Präsidente­npalast und der wird die Juristin noch länger beschäftig­en. »Es gibt keine verlässlic­hen Zahlen wie viele Arbeiter*innen aus den Maquilas damals starben. Für die Toten tragen die Unternehme­n und lokalen Behörden jedoch eine Mitverantw­ortung.«

Die könnte sich in hohen Entschädig­ungszahlun­gen niederschl­agen und daran arbeitet Prieto in letzter Zeit. Ein Grund, weshalb es etwas ruhiger um die umtriebige Aktivistin geworden ist, die ganz bewusst die Unantastba­rkeit der Allianz aus Politik und Unternehme­n in Frage stellt. Das hat Susana Prieto viel Respekt in der Grenzregio­n eingebrach­t und Aufmerksam­keit etlicher Kongressab­geordneter aus den USA. Diese fragten im Juni 2020 kritisch nach, warum Prieto hinter Gittern verschwund­en sei. Das sowie die Einführung des neu verhandelt­en nordamerik­anischen Freihandel­svertrags (USMCA) sorgten am 1. Juli 2020 letztlich für die Freilassun­g der Arbeitsrec­htlerin. Die war wenige Tage später zum Treffen mit Präsident Andrés Manuel López Obrador eingeladen, um die Gemüter zu besänftige­n.

Kein Zufall, da das neue Freihandel­sabkommen mehr Wert auf die Wahrung der Arbeitsrec­hte legt. Das ist eine Chance für Aktivisten wie Prieto und auch für die neue Gewerkscha­ft SNITIS. Doch ob sich das positiv auswirken wird, steht noch in den Sternen. Die schwarzen Listen, auf denen gewerkscha­ftsaffine Arbeiter*innen aufgeführt sind, kursieren weiter in Ciudad Juárez.

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Foto: Reuters Von der Straße ins Gefängnis auf die Straße zurück: Susana Prieto lässt sich nie den Mund verbieten.

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