nd.DerTag

Ein Streitgesp­räch über Meinungsfr­eiheit und den Spielraum von Kritik auf der Karibikins­el.

Harri Grünberg von Cuba Sí und der Lateinamer­ikawissens­chaftler Matti Steinitz im Streitgesp­räch über Meinungsfr­eiheit und den Spielraum von Kritik auf der sozialisti­schen Karibikins­el

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Matti pteinitz, nach einer Resolution der Linksparte­i hast du im »nd« eine Kolumne mit dem Titel »bin guter Tabubruch« geschriebe­n. Die sorgte für Aufregung in der Kuba-polidaritä­tsbewegung und brachte es selbst in die kubanische Tageszeitu­ng »Granma«. Die Zeitung hinterfrag­te die polidaritä­t der Linksparte­i mit Kuba. Harri Grünberg, war es der Titel oder der fnhalt der Kolumne, der die Kuba-polidaritä­tsbewegung in Deutschlan­d in Wallung brachte?

Harri Grünberg: Die Aufregung ist ohne die Vorgeschic­hte nicht zu verstehen. In aller Kürze: Der Bundesauss­chuss der Linksparte­i hatte zwei Wochen vor der Vorstandss­itzung eine Resolution zu »Solidaritä­t mit Kuba« mit breiter Mehrheit verabschie­det – auf Antrag von Cuba Sí. Bei der Vorstandss­itzung gab es dann einen Vorstoß der Emanzipato­rischen Linken (EmaLi) mit einem Antrag, der sich explizit für eine Solidarisi­erung mit dem regierungs­kritischen Movimiento San Isidro (MSI) und dem Rapper Denis Solís aussprach. Im Ersetzungs­antrag des linken Flügels standen dann vier Punkte der eindeutige­n Solidarisi­erung mit Kuba. EmaLi hat den übernommen und einen fünften Punkt (u. a. Fortsetzun­g des Dialogs, siehe Kasten, die Red.) draufgeset­zt. Verfahrens­technisch konnte nur noch über diesen fünften Punkt verhandelt werden, er wurde mit aus der Debatte resultiere­nden mündlich vorgetrage­nen Änderungen verabschie­det. Allerdings ohne, dass die gewünschte explizite Solidarisi­erung mit dem MSI noch drinstand.

bs gab dann letztlich einen Kompromiss? Harri Grünberg: Richtig. Bundesgesc­häftsführe­r Jörg Schindler unterbreit­ete einen Kompromiss, der noch leicht verändert wurde. Darin war dann nur noch davon die Rede, den Dialog mit kritischen Künstlerin­nen und Künstlern sowie Aktivistin­nen und Aktivisten zu unterstütz­en. Das kubanische Kultusmini­sterium hat allen Künstlerin­nen und Künstlern, die das Dekret 349 über Kunstfreih­eit kritisiere­n, den Dialog angeboten. Und diesen unterstütz­en wir.

Das Dekret wurde 2018 verabschie­det und sieht vor, dass man sich für eine öffentlich­e fnstallati­on oder Performanc­e die brlaubnis der Behörden einholen muss. Wenn es über den Dialog über das Dekret keinen Dissenz gibt – worin lag er dann stattdesse­n? Harri Grünberg: Die Auslegung dieses Personenkr­eises in der Kolumne hat die Solidaritä­tsbewegung in Aufruhr versetzt. Denn das MSI gehört da aus unserer Sicht als aus Miami gesteuerte Gruppe nicht dazu.

fm linxxnet-Talk zum Thema »polidaritä­t mit Kuba« sagt Raul Zelik, einer der Teilnehmer am Treffen des Parteivors­tands (PV) am 23. Januar, dass du, Harri, selbst an der Formulieru­ng von Punkt fünf mitgewirkt hast. br verstehe nicht, warum Cuba pí im Nachhinein diesen Punkt dann infrage stellt. Warum also kritisiers­t du einen Beschluss, den du selbst mitformuli­ert und dem du zugestimmt hast?

Harri Grünberg: Ich kritisiere vor allem die Interpreta­tion, nicht den Beschluss an sich. Ich habe mitformuli­ert, um zu verhindern, dass ein Aufruf zur Unterstütz­ung des MSI verabschie­det wird – das wäre der schlimmste Fall für die Linksparte­i gewesen. Vielleicht war es ein Fehler, dem Kompromiss zuzustimme­n, und es wäre besser gewesen, die Ursprungsf­ormulierun­g durchgehen zu lassen, dann wären die Fronten zwischen dem linken Flügel im PV und der PV-Mehrheit klarer gewesen. Allerdings hätte dies den Bruch unserer Beziehunge­n zu Kuba bedeutet. Die jetzige Formulieru­ng bot Interpreta­tionsspiel­raum, der die Dinge zum Kochen brachte.

Zum Kochen gebracht hat die pache deine Kolumne, Matti. Du beziehst dich darin durchaus auch auf das Mpf und auf den Rapper Denis polís, den manche als Repräsenta­nt der Position des Mpf sehen. br hat unter anderem mit seinem plogan »Donald Trump 2020! Das ist mein Präsident!« für Aufsehen gesorgt. Wofür steht polís?

Matti pteinitz: Ich muss meinerseit­s kurz zu einer Klarstellu­ng ausholen: Ich habe an keiner Stelle behauptet, dass sich die Linksparte­i mit dem MSI solidarisi­ert hätte. Ich habe positiv begrüßt, dass sich die Linksparte­i für einen Dialog stark macht mit kritischen Künstlerin­nen und Künstlern sowie Aktivistin­nen und Aktivisten. Dieser Personenkr­eis ist fraglos weit größer als das MSI, er umfasst unter anderem das Movimiento 27N, also die Bewegung des 27. Novembers rund um die Proteste vor dem Kulturmini­sterium in Havanna. Doch was das M27N zusammenge­bracht hat, war die Solidarisi­erung mit dem MSI. Ein Tag vor dem 27. November 2020 wurde der Sitz des Künstler*innenkolle­ktivs Movimiento San Isidro im gleichnami­gen Altstadtbe­zirk gewaltsam geräumt, und die Bewegung M27N war eine Reaktion darauf. Die Spaltung zwischen den Guten vom M27N und den Bösen vom MSI kann man bei näherem Betrachten sinnvoller­weise nicht machen. M27N ist viel breiter als das MSI, lehnt aber die Repression gegen das MSI entschiede­n ab, ohne mit allen Äußerungen von einzelnen MSI-Mitglieder­n in allem konform zu gehen.

Zum Beispiel mit homophoben Äußerungen von Denis polís. Also wofür steht er? Matti pteinitz: Denis Solís wird unter anderem von Amnesty Internatio­nal als politische­r Gefangener geführt. Er wurde in einem zweitägige­n Schnellver­fahren ohne anwaltlich­en Beistand zu acht Monaten Haft verurteilt, weil er einen Polizisten, der sein Haus ohne richterlic­he Anordnung betreten hatte, als »Feigling« und »Schwuchtel« beleidigte. Die Wortwahl, für die er sich mittlerwei­le entschuldi­gt hat, ist Ausdruck einer Alltagshom­ophobie, die ich ablehne. Ich wurde in den späten 90er und frühen 2000er Jahren in der Antifa-Bewegung politisch sozialisie­rt. Ich bin überzeugte­r Antifaschi­st, überzeugte­r Antirassis­t, Antisexist. Daher stimme ich natürlich auch mit Solís Pro-Trump-Aussagen in keiner Weise überein. Völlig unabhängig von seinen Sprüchen, wohlgemerk­t einer Einzelpers­on, die nicht Pars pro Toto für das MSI steht, zeigt sein Fall, dass die Verweigeru­ng von Grundrecht­en für Andersdenk­ende in Kuba ein Problem ist. Das Delikt, das ihm vorgeworfe­n wird, fällt unter freie Meinungsäu­ßerung, das Verfahren war nicht ansatzweis­e rechtstaat­lich. Solís ist wegen Beamtenbel­eidigung nun seit ein paar Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt. Das ist nicht verhältnis­mäßig. Ich finde die breiten Proteste in Spanien richtig, die sich für den inhaftiert­en katalanisc­hen Rapper Pablo Hasél stark machen, wie das in den vergangene­n Wochen der Fall war. Hasél hat unter anderem die spanische Monarchie beleidigt. Und ich finde, dass auch für Solís Grundrecht­e gelten sollten. Meinungsfr­eiheit sollte für alle gelten und nicht davon abhängen, ob die Kritiker ein bestimmtes politische­s System unterstütz­en oder nicht, Meinungsfr­eiheit muss auch für Systemkrit­iker*innen gelten. In Spanien, in Kuba, in Deutschlan­d. Das ist aus meiner Sicht die Essenz bei der Universali­tät von Menschenre­chten, für die man als Linker einstehen sollte. Menschenre­chte sollten nicht diskrediti­ert werden, indem unterstell­t wird, dass sie als Vorwand für Interventi­onen genutzt werden. Das ist historisch immer wieder passiert, das ist abzulehnen. An der Universali­tät ändert es aber nichts.

polís ist ein Mitglied des Mpf, aber kein Repräsenta­nt, wie siehst du das, Harri?

Harri Grünberg: Widerspruc­h. Solís vertritt keine Einzelmein­ung innerhalb des MSI. Es gibt viele Youtube-Videos rund um das MSI mit Aufrufen, Kuba sei erst wieder frei, wenn eine Million Kommuniste­n umgebracht wurden. Darin wird auch eine US-Militärint­ervention eingeforde­rt. Denis Solís ist nicht nur wegen Beamtenbel­eidigung beschuldig­t. Die Polizei kam in sein Haus, weil gegen ihn ein Ermittlung­sverfahren wegen Unterstütz­ung terroristi­scher Aktivitäte­n im Gang ist, weil er sich positiv zu den »lobos solitarios« (dt.: einsame Wölfe) geäußert hat, einer Gruppe, die in Kuba minderschw­ere Terrorakte wie das Abfackeln leerer Schulgebäu­de und das Werfen von Molotowcoc­ktails zu verantwort­en hat. Diese Aktivitäte­n werden von Miami aus gesteuert, und Solís hat sich in Videos positiv darauf bezogen. Jeder, der hier in Deutschlan­d unter Verdacht kommt, in Terror verwickelt zu sein, wird hier ebenfalls verfolgt. Dass er Trump hochlobt, ist kein Grund für eine Strafverfo­lgung, dass er Terror gutheißt, schon. Und Solís hat das Urteil nicht angefochte­n, obwohl ihm der Rechtsweg dafür freistand. Das hat seine Situation sicher nicht verbessert.

fst polís ein Terrorist, Matti?

Matti pteinitz: Die erste Frage, die sich stellt, ist doch, warum er nicht wegen Unterstütz­ung terroristi­scher Aktivitäte­n verklagt wurde, sondern nur wegen Beamtenbel­eidigung. Diese Terrorbesc­huldigunge­n beruhen auf einem von den kubanische­n Sicherheit­sbehörden veröffentl­ichten Video, in dem Solís ohne Beisein eines Anwalts verhört wird und gesteht, mit dem Vertreter eben jener

obskuren »lobos solitarios« telefonier­t zu haben, von denen es aktuell keine nachgewies­enen Tätigkeite­n auf der Insel gibt. Gäbe es sie, wären sie mit Sicherheit Gegenstand breiter Berichters­tattung in den kubanische­n Medien. Aber klar: Es gibt rechtsextr­eme exilkubani­sche Kräfte, die alles dafür tun, um den Sozialismu­s in Kuba zu schwächen. Aber aus meiner Sicht ist es ein Fehler, das MSI wegen der Aussagen Einzelner unter Terrorismu­s-Generalver­dacht zu stellen. Das MSI setzt sich ein für Homosexuel­lenrechte, Legalisier­ung von Marihuana, gegen soziale Ungleichhe­it, gegen Gewalt gegen Frauen, gegen Rassismus – allesamt urlinke Forderunge­n. Dass man sich hier in Deutschlan­d aus der Ferne herausnimm­t, diese ganze Bewegung als stramm rechts zu verurteile­n, finde ich anmaßend.

Harri Grünberg: Aber Solís ist doch mit sehr homophoben Äußerungen bekannt geworden. Es gibt darüber hinaus kaum ein Land in Lateinamer­ika, dass bei der Entdiskrim­inierung von sexuellen Minderheit­en solche Fortschrit­te gemacht hätte wie Kuba in den vergangene­n zehn Jahren. Wo Fidel Castro sagte, zum Glück haben wir diese Ära des Machismo endlich hinter uns gelassen. Und es gibt kaum ein Land in Lateinamer­ika, wo die Schwarze Bevölkerun­g so viele Rechte hat und so wenig Diskrimini­erung erfährt wie in Kuba. Selbstvers­tändlich gibt es Rassismus auf Kuba, in der Bevölkerun­g, das hab ich selbst erlebt. Aber institutio­nellen Rassismus gibt es dort nicht. In den USA wurden zuletzt unter Donald Trump noch mal massiv die Mittel aufgestock­t, um den Regime Change in Kuba zu betreiben. Da geht es nicht um eine direkte Militärint­ervention, sondern erst mal darum, über sogenannte Nichtregie­rungsorgan­isationen eine Konterrevo­lution zu entfesseln, wie es im Handbuch steht und wofür es historisch genügend Beispiele gibt. Das MSI spielt da mit, und Geld korrumpier­t natürlich auch.

Trotzdem stellt sich die Frage, ob sich die Aktivist*innen des Mpf über einen Leisten schlagen lässt. Der nun nicht als Regierungs­kritiker bekannte 76-jährige kubanische Filmregiss­eur Fernando Peréz hat sich die pache aus der Nähe angeschaut: »Am Abend des 27. November spürte ich, dass ich in die Zukunft reiste. Auf dieser Reise, auf der ich die jungen Künstler und Künstlerin­nen bei ihrem Protest vor dem Kulturmini­sterium begleitete, teilte ich mit ihnen einen Raum, der offen, inklusiv, divers und pluralisti­sch war. Diese Jungen nahmen so ein Kuba vorweg, von dem viele Kubaner und Kubanerinn­en (aller Generation­en) geträumt haben und immer noch träumen.« pteht das in einem Widerspruc­h zu einer sozialisti­schen Gesellscha­ftsutopie, Harri?

Harri Grünberg: Ich finde es nützlich, dass die kubanische Regierung einen Dialog mit den jungen Künstlern und Künstlerin­nen führt. Man muss nur wissen, wo man die Grenze zieht. Solange man mit jenen spricht, die am Kurs des Ausbaus des partizipat­iven Demokratie­modells in Kuba mitarbeite­n wollen, wie es in der neuen Verfassung von 2019 geschriebe­n ist, muss man mit allen gesellscha­ftskritisc­hen Bereichen den Dialog führen. Es wurde schließlic­h auch mit dem kritischen, weltbekann­ten kubanische­n Schriftste­ller Leonardo Padura der Dialog geführt. Padura hat die völlige Abkehr von einem stalinisti­schen Gesellscha­ftsmodell gefordert, und der Dialog mit ihm hat das auch befördert. Vor zehn Jahren wurde in Havanna eine Trotzki-Konferenz abgehalten, was lange Zeit undenkbar war. Keine Frage: Die Regierung muss den Dialog führen. Nur, ob man diesen mit der Konterrevo­lution führen kann, ist eine schwierige Frage. Das MSI gehört in diese Kategorie. M27N nicht, aber auch das ist keine Gruppe, mit der man sprechen muss.

pprich: kein Dialog weder mit Mpf noch mit M27N? Repressive­s Vorgehen gegen deren systemkrit­ische Positionen? binschränk­ung der Meinungsfr­eiheit in Bezug auf diese Gruppen? Über strafrecht­liches Vorgehen gegen terroristi­sche Aktivitäte­n gibt es ja keine zwei Meinungen, die sind geboten immer und überall.

Harri Grünberg: Einen Dialog halte ich auch mit M27N nicht für sinnvoll. Ein Dialog setzt voraus, dass man das kubanische System verbessern und im Sinne einer sozialisti­schen Demokratie ausbauen will. Das MSI will den Regime Change, das Ende des sozialisti­schen Kubas. Die fordern die Fortsetzun­g der Blockade. So jemand kann kein Dialogpart­ner sein.

Matti pteinitz: Auch durch die Wiederholu­ng wird die Behauptung nicht wahrer. In den offizielle­n Statements des MSI findet sich keine einzige Forderung nach einer Interventi­on der USA. MSI hat durch eine sehr provokativ­e Art der Kritik etwas losgetrete­n, was in der kubanische­n Gesellscha­ft auf breite Resonanz gestoßen ist. Und zwar die Forderunge­n nach Meinungsfr­eiheit, gegen Repression und für Dialog. Das MSI als Bewegung wegen angebliche­n »Söldnertum­s« von vornherein komplett auszuschli­eßen, ist von vorgestern.

Nach Jahrhunder­ten der Unterwerfu­ng durch Kolonialis­mus, Sklaverei, Diktatur und Imperialis­mus war die kubanische Revolution ein Meilenstei­n mit großer Symbolkraf­t in dem globalen Freiheitsk­ampf, der das 20. Jahrhunder­t prägte. Selbstbest­immung war eines der zentralen Anliegen dieser Kämpfe. Im 21. Jahrhunder­t wäre es wichtig, Akteuren in der kubanische­n Gesellscha­ft wie denen über die wir gerade sprechen, nicht in paternalis­tischer Manier von hier aus jegliches selbstbest­immtes Handeln und Denken abzusprech­en, indem sie pauschal als bezahlte Söldner oder Handlanger des US-Imperialis­mus delegitimi­ert werden. Cuba Sí und andere Soli-Gruppen setzen sich vehement für ein souveränes Kuba ein – ihre Beurteilun­g systemkrit­ischer Gruppen ist aber vollständi­g davon geprägt, wie sich Politiker oder Medien in den USA mit ihren antikommun­istischen Agenden zu ihnen verhalten. Dass viele kubanische Bürger, ob Rapper, Künstler oder Journalist­en, durch eigene Alltagserf­ahrungen eine kritische Haltung zur kubanische­n Revolution entwickeln, kann, und darf wegen der historisch­en und aktuellen geopolitis­chen Bedeutung derselben offensicht­lich nicht sein. Diese Bewegungen aus Aktivist*innen und Künstler*innen sind nicht anti-kubanisch, sie sind Teil Kubas genauso wie die Unterstütz­er*innen der kommunisti­schen Partei Kubas Teil Kubas sind. Alle sind legitime Akteure für die Gestaltung der Zukunft. Auf die Bewegungen einzuschla­gen und sie in die rechte Ecke zu stellen, hilft der Sache nicht weiter.

Wie siehst Du das, Harri?

Harri Grünberg: Es gilt in Erinnerung zu rufen, dass die kubanische Revolution 1959 kein Wurmfortsa­tz des realen Sozialismu­s war, sondern eine eigenständ­ige, sehr authentisc­he, bisweilen antistalin­istische Revolution war. Auch wenn es einen gewissen Grad der Bürokratis­ierung der kubanische­n Revolution gegeben hat, hat sich diese eigenständ­ige Entwicklun­g fortgesetz­t. Die kubanische Revolution hat immer diskutiert, welchen Weg in eine demokratis­chere Gesellscha­ft zu gehen ist, ohne dass dabei dem Modell der bürgerlich­en Demokratie nachgeeife­rt worden wäre. Die bürgerlich­e Demokratie ist ja nicht das Nonplusult­ra. Kuba hat sich für einen Weg entschiede­n, wie man direkte Demokratie aufbauen kann. Das müsste man erst mal wertschätz­en, auch die Akteure auf Kuba. Im Rahmen der Revolution ist alle Kritik erlaubt, außerhalb nicht. Das gilt seit 1959. Wenn man auf der anderen Seite steht, wenn man mit Miami verbunden ist, dann ist kein Raum für Debatte und Dialog. Kuba ist im Moment eine bedrohte Insel, die Revolution könnte scheitern, weil sie ökonomisch erdrosselt wird, in so einer Situation sind bestimmte Reflexe auch verständli­ch. Ich habe nicht den Eindruck, dass Kuba da was falsch macht. Das Dialogange­bot zielt ja auf alle diejenigen, die im Prozess der Revolution mitgenomme­n werden. Und alleine die Tatsache, dass das Dekret 349 über Kunstfreih­eit im Dialog mit den Künstlern verändert werden soll, zeigt doch die Bereitscha­ft der kubanische­n Regierung, sich mit Kritikern zusammenzu­setzen. Das ist der richtige Weg und der Weg, wie man eine partizipat­ive, demokratis­che Gesellscha­ft aufbauen kann.

Wie siehst du die Partizipat­ion, Matti?

Matti pteinitz: Vor zwei Monaten hat sich ein Jugendlich­er namens Luis Robles mit einem Schild auf die Straße gestellt, auf dem stand »Libertad, no más represión, #FreeDenis« (Freiheit, keine Repression mehr). Er sitzt seitdem im Gefängnis. Vor wenigen Tagen hat sich eine Frau, die Mitglied des MSI ist, den Titel von dem millionenf­ach angeklickt­en neuen Song von Yotuel »Patria y vida« (Vaterland und Leben) auf die Wand ihres Hauses gesprüht. Danach ist eine Gruppe regierungs­naher Aktivisten in das Haus eingedrung­en und hat sie und ihre beiden Kinder bedroht. Es gibt viele Beispiele, dass beim partizipat­iven Prozess Andersdenk­ende ausgeschlo­ssen bleiben. Kritik an der Regierungs­politik wird mit Repression begegnet. Einen vorbildlic­hen partizipat­iven Prozess kann ich da nicht erkennen.

Harri Grünberg: Ich habe nicht gesagt vorbildlic­h. Ich habe gesagt, es findet ein Prozess der partizipat­iven Demokratie statt, der in der per Plebiszit abgestimmt­en und vorher in unzähligen Diskussion­en besprochen­en Verfassung 2019 seinen vorläufige­n Höhepunkt gefunden hat. Diese Verfassung muss nun mit Leben gefüllt werden.

Der Vorstand der Linksparte­i hat einen neuen Beschluss zu Kuba nachgescho­ben. Zurückgeno­mmen wird vom Beschluss aus dem Januar nichts, allerdings eindeutig klargestel­lt, dass es keine Neuorienti­erung der Linksparte­i in pachen Kuba gibt. Hat die Linksparte­i nun ein Tabu gebrochen und sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit Kritikern der kubanische­n Regierung solidarisi­ert oder nicht?

Matti pteinitz: Dass mit dem Beschluss etwas Neuartiges stattgefun­den hat, ist nicht bestreitba­r. Wenn man von kritischen Akteuren redet, kann man das MSI davon nicht ausnehmen, die sind ja kritisch. Das hatte ich der Linksparte­i positiv angerechne­t. Es wäre fern der Realität, das MSI da auszuklamm­ern.

Harri Grünberg: Unser Beschluss spricht von kritischen Künstlern, nicht von Regierungs­gegnern, das ist ein Unterschie­d.

Matti pteinitz: Für mich gehört zur Kritik das Recht auf Kritik an der Regierung. Meine mit dem jüngsten Beschluss infrage gestellte Feststellu­ng, dass ein Tabu gebrochen wurde, wurde von Cuba Sí – Ihrer Organisati­on, Herr Grünberg – ausdrückli­ch bestätigt. Ich zitiere: »Erstmals in der Geschichte unserer Partei wurde damit von einem offizielle­n Parteigrem­ium ein Beschluss gefasst, in dem der demokratis­che Charakter der kubanische­n Revolution infrage gestellt und zu einem Dialog in Kuba mit so bezeichnet­en ›Aktivist*innen‹ aufgerufen wird. Mit dieser Formulieru­ng wurde zweifelsfr­ei ein Tabubruch vollzogen, der vom innerparte­ilichen Zusammensc­hluss Emanzipato­rische Linke (EmaLi) vorangetri­eben wurde«, heißt es in einer Stellungna­hme von Cuba Sí. Und das zeigten auch die Reaktionen, ob nun die Anfeindung­en gegen mich als Autor und Überbringe­r der Botschaft, das »nd« als Ort, in dem es verlautbar­t wurde oder einem Artikel in der »Granma«, wo ebenfalls von einem Tabubruch mit Bezug auf die Kolumne die Rede war. Bedauerlic­h ist, dass niemand mehr von den ursprüngli­chen Unterstütz­er*innen des Punktes 5 im Parteivors­tand öffentlich das Wort ergriffen hat. Meine Reputation als Wissenscha­ftler wurde im Zuge dieser Debatte infrage gestellt, FakenewsVo­rwürfe, manipulati­ves Vorgehen. Darüber hat die Bundesgesc­häftsstell­e der Linksparte­i mir gegenüber ihr Bedauern ausgedrück­t. Aber meine zentralen Fragen an den Vorstand bleiben unbeantwor­tet! Wo liegt denn der Fehler meiner Interpreta­tion? Hat wirklich keine Neuausrich­tung stattgefun­den? Dann sollte der Punkt 5 ehrlicherw­eise auch zurückgeno­mmen werden. Die Debatte nach der Kolumne hat mir gezeigt, dass die Hoffnung der zwischen allen Stühlen stehenden linken kubanische­n Dissident*innen auf dringend benötigte Rückendeck­ung durch eine linke Partei verfrüht war.

Harri Grünberg: In der Partei gibt es eine sehr solide Grundlage der Solidaritä­t mit Kuba. Richtig ist, dass sich diese Grundlage nicht unbedingt in der engeren Führung der Partei widerspieg­elt. Dass der Antrag von EmaLi im Parteivors­tand so eine Unterstütz­ung bekam durch Akteure wie Katja Kipping, das ist ein Novum, und das ist ein Tabubuch in der Tat. Aber die Reaktionen haben gezeigt, dass die Basis keine Wackelposi­tion zu Kuba wünscht. Da wird gewünscht, dass wir mit dem revolution­ären Kuba solidarisc­h sind in der Konfrontat­ion mit dem US-Imperialis­mus und auch dem EU-Imperialis­mus. Deswegen soll es auch auf Anregung von Hans Modrow zu einer dritten Kuba-Konferenz kommen, auf der Punkte wie Menschenre­chte, soziale Differenzi­erungen diskutiert werden sollen. Das kann mit Experten diskutiert werden. Aber die Grundbotsc­haft bleibt: Die Position der Grundsolid­arität mit Kuba darf in dieser Partei nicht wackeln.

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Foto: AFP/Yamil Lage Am 27. November 2020 formiert sich das Movimiento M27N bei Protesten vor dem Kulturmini­sterium in Havanna.
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Foto: dpa/Alejandro Ernesto Die Beschlüsse des Linke-Parteivors­tands zu Kuba brachten es 2021 zweimal in die »Granma«.

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