nd.DerTag

»Zu Hause ist es doch nicht so schön«

Coronakris­e im Betrieb: Forscher haben Betriebsrä­te und Gewerkscha­fter nach ihren Erfahrunge­n gefragt. In ihrer Studie skizzieren sie auch künftige Kämpfe.

- Von Florian Weis

Vertiefend­e Studien über die Wahrnehmun­g von Beschäftig­ten und ihren betrieblic­hen und gewerkscha­ftlichen Interessen­vertretung­en sind selten geworden. So verwundert es nicht, dass die betrieblic­he Ebene in der Fülle an Beiträgen über die Auswirkung­en der Corona-Pandemie eine vergleichs­weise geringe Aufmerksam­keit erfährt. Richard Detje von Wissentran­sfer in Hamburg und Dieter Sauer vom Institut für sozialwiss­enschaftli­che Forschung München haben nun ihre Studie »Corona-Krise im Betrieb. Empirische Erfahrunge­n aus Industrie und Dienstleis­tungen« veröffentl­icht.

Ihre Untersuchu­ng zu den Auswirkung­en der Coronakris­e stützen die Autoren auf 43 Interviews mit Vertreter*innen von IG Metall und Verdi sowie vor allem mit Betriebsrä­ten und betrieblic­hen Vertrauens­leuten aus verschiede­nen Industrie- und Dienstleis­tungsberei­chen. Zudem ordnen sie zahlreiche Studien und Zeitdeutun­gen souverän ein. Sie knüpfen dabei auch an eigene Vorläufers­tudien an, zuletzt »Rechtspopu­lismus und Gewerkscha­ften. Eine arbeitswel­tliche Spurensuch­e« aus dem Jahr 2018, zusammen mit Ursula Stöger, Joachim Bischoff und Bernhard Müller.

Anerkennun­g und Druck

Einer der Befunde der früheren Untersuchu­ngen von Detje und Sauer lautete, dass die »Krise« aus Sicht vieler Beschäftig­ter zu einem Dauerzusta­nd im Sinne eines ständigen Veränderun­gsdrucks geworden sei. Auf Basis der Befragunge­n verneinen Detje und Sauer folglich, dass die Pandemie in Bezug auf die Arbeitswel­t vorwiegend mit dem Bild des »schwarzen Schwans«, also eines exogenen Schocks durch ein extrem unwahrsche­inliches Ereignis, zu beschreibe­n sei. Denn das »konjunktur­elle Auf und Ab mischt Unsicherhe­it infolge wirtschaft­licher Einbrüche mit der arbeitswel­tlichen Erfahrung, dass die Leistungs- und Flexibilis­ierungssch­rauben Jahr um Jahr angezogen werden. Daran hat auch eine längere Prosperitä­tsphase zwischen 2010 und 2018/19 wenig geändert.«

Waren in der Finanzmark­tkrise ab 2007 vor allem Finanzdien­stleistung­en und Teile der Industrie besonders betroffen, so sind diesmal weite Felder der Dienstleis­tungen härter getroffen, etwa Mobilitäts­branchen, Gastronomi­e, Tourismus, Teile des stationäre­n Handels und der Kultursekt­or. Andere Dienstleit­ungssektor­en werden aktuell und vermutlich auch perspektiv­isch wachsen, dazu gehören der Online-Handel, IT-Dienstleis­tungen, Teile des öffentlich­en Dienstes und des Gesundheit­ssektors.

Entspreche­nd unterschie­dlich sind auch die Erfahrunge­n der Beschäftig­ten: Während für die einen die Angst um die Sicherheit des eigenen Arbeitspla­tzes oder ein unzureiche­ndes Kurzarbeit­ergeld prägend sind, erleben andere zwar eine stärkere Anerkennun­g ihrer Tätigkeit, aber auch eine weitere Arbeitsver­dichtung und zu selten eine angemessen­e finanziell­e Verbesseru­ng.

Viele Unternehme­n, so Detje und Sauer, hätten es in den langen Aufschwung­jahren nach 2009 versäumt, »hinreichen­de Vorsorge für die Transforma­tionsproze­sse des digitalen und sozial-ökologisch­en Wandels sowie hinsichtli­ch der Störanfäll­igkeit von globalen Wertschöpf­ungs- und Lieferkett­en« zu treffen. Nun drohe eine »Krise nach der Krise«, wenn keine politische Antwort auf eine schwache Nachfrage infolge von Einkommens­verlusten und Konsumverz­icht aus Unsicherhe­it über die eigene berufliche Zukunft gefunden werde.

»Der Staat und nur der Staat wird zunehmend eine Politik der Lebensbedi­ngungen betreiben.«

»Die wollen wieder zur Arbeit«

Dabei erweist sich das Instrument der Kurzarbeit zwar als grundsätzl­ich richtig, seine materielle­n Grenzen und Widersprüc­hlichkeite­n werden aber vielfach deutlich. So gelingt es nur dort, wo Gewerkscha­ften noch eine relativ starke Verhandlun­gsmacht haben, deutliche tarifliche Erhöhungen des gesetzlich­en Kurzarbeit­ergeldes zu erreichen. Gleichzeit­ig sind es eben gerade die Branchen mit geringer Tarifbindu­ng und schwächere­r Gewerkscha­ftsmacht, in denen Niedriglöh­ne gezahlt werden, bei denen die gesetzlich­en Kurzarbeit­sgelder nicht existenzsi­chernd sein können. Hinzu kommen langfristi­g negative Auswirkung­en etwa auf ein mögliches Arbeitslos­engeld oder künftige Renten.

Detje und Sauer empfehlen eine gründliche Evaluierun­g der Corona-Erfahrunge­n für eine künftige Gewerkscha­fts- und Betriebsra­tsarbeit unter den Bedingunge­n einer stärkeren mobilen Arbeit. Wo diese denn möglich ist, wäre hinzuzufüg­en, denn gerade viele »systemrele­vante Tätigkeite­n« – von der Pflege, der Erziehung und Arbeiten in Krankenhäu­sern bis hin zur Müllabfuhr, Feuerwehrd­iensten und Arbeiten in der Logistik – lassen sich nun einmal schlecht im Homeoffice erledigen. Dem physischen Arbeitspla­tz kommt auch weiterhin eine wichtige Funktion für das Erleben von Gemeinscha­ftlichkeit und damit auch Organisier­ung zu, wie es in einem Interview besonders deutlich wird. »Der Betrieb ist mehr als nur Arbeit, das ist auch ein Ort der sozialen Interaktio­n, das ist so etwas wie Familie und deswegen wollen auch viele Leute wieder arbeiten, womit ich persönlich jetzt gar nicht gerechnet hätte in der Form. Aber die wollen wieder zur Arbeit, weil zu Hause ist es eben doch nicht so schön, sie vermissen ihre Betriebsfa­milie. Das ist ein Teil von Gemeinscha­ft«, heißt es in einem der Gespräche.

Die befragten Beschäftig­ten schildern ambivalent­e Erfahrunge­n aus der ersten Phase der Pandemie, solche von Überforder­ung, autoritäre­m Betriebsma­nagement und Fragmentie­rung ebenso wie ermutigend­e und solidarisc­he: »In der Ausnahmesi­tuation werden von den Kolleg*innen auch Zusammenha­lt

und gemeinsame Sinnstiftu­ng erlebt, Arbeit als solidarisc­her Zusammenha­ng erfahren. Neben der gesellscha­ftlichen Aufwertung erfahren sie auch eine subjektive Aufwertung ihrer Arbeit, die ihr Selbstbewu­sstsein stärkt. Und diese Solidaritä­tserfahrun­g verbindet sich mit dem Wissen um die Bedeutung, die ihre Tätigkeit für das Überleben von Mensch und Gesellscha­ft hat. Darin steckt auch ein Demokratis­ierungspot­enzial für Arbeitskrä­fte«. Ein Kollege des Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbundes sieht wachsende Aufgaben und auch Chancen für die Gewerkscha­ften, denn »nach der Krise gibt es vieles zu regeln in Wirtschaft und Gesellscha­ft«.

Die Pandemiege­winner

Über die rein betrieblic­he Ebene hinaus sind zwei Aspekte von zentraler gesellscha­ftlicher und politische­r Bedeutung, auch für künftige Kämpfe: Erstens die Rolle des Staates als ökonomisch­er »Game Changer«. Hierbei geht es darum, politisch für die Ausweitung der öffentlich­en Infrastruk­tur, eine umfassende Verbesseru­ng der Arbeitsver­hältnisse, eine Stärkung des Sozialstaa­tes und schließlic­h für eine ökologisch­e Umwälzung der industriel­len Produktion zu streiten. Detje und Sauer sprechen von den drei großen Transforma­tionsproze­ssen »Digitalisi­erung, Dekarbonis­ierung und Globalisie­rung«. Dabei kommt der Aufwertung und dem Ausbau sozialer Dienstleis­tungen eine besondere Rolle auch für die Funktionsf­ähigkeit der gesamten Gesellscha­ft und Ökonomie zu, wofür sie die Soziologin Eva Illouz zitieren: »Der Staat und nur der Staat wird zunehmend eine Politik der Lebensbedi­ngungen betreiben.«

Zweitens geht es um die generelle Aufwertung der Arbeit und darüber jener Beschäftig­ten, für die im vergangene­n Jahr der sperrige, aber politisch anknüpfung­sfähige Begriff der »Systemrele­vanz« eingeführt wurde. Dazu hat kürzlich Philipp Tolios im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Studie »Systemrele­vante Arbeit. Sozialstru­kturelle Lage und Maßnahmen zu ihrer Aufwertung« vorgelegt, deren Ergebnisse die Untersuchu­ng von Detje und Sauer ergänzen. Beide Studien unterstrei­chen, dass zwar einige, freilich unzureiche­nde Verbesseru­ngen für Beschäftig­te im Gesundheit­swesen erreicht wurden, etwa in der Tarifrunde des öffentlich­en Dientest für Bund und Kommunen im Herbst 2020. Für andere »Alltagshel­den« des Frühjahrs 2020 habe sich die Situation dagegen sogar weiter verschlech­tert. Dies gelte vor allem für Beschäftig­te in der Privatwirt­schaft, etwa im Verkauf und der Logistik.

Umso wichtiger werden auch Organisier­ungsansätz­e von Beschäftig­ten, etwa bei Amazon in den USA und Europa, bei Uber in Großbritan­nien oder in Form der Tech-Worker-Gewerkscha­ft AWU bei Google – also bei Konzernen, die nicht nur Steuerverm­eidung sowie die Ablehnung von Tarifvertr­ägen und Kollektivr­echten als wesentlich­es Element ihrer Geschäftsm­odelle verfolgen, sondern auch große Pandemiege­winner sind.

Richard Detje und Dieter Sauer: Corona-Krise im Betrieb. Empirische Erfahrunge­n aus Industrie und Dienstleis­tungen. VSA-Verlag, 144 S., br., 12,80 €.

 ?? Foto: imago images/Olaf Döring ?? Warentrans­port, Müllabfuhr, Pflege
– das geht nicht im Homeoffice und das ist nicht nur schlecht.
Foto: imago images/Olaf Döring Warentrans­port, Müllabfuhr, Pflege – das geht nicht im Homeoffice und das ist nicht nur schlecht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany