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Immer die Rinne entlang

Berliner Stadtwande­rung: Von Schöneberg nach Grunewald – über trockengel­egte Sümpfe, verschütte­te Seen und Autobahn bis ins Villenvier­tel. Ein eiszeitlic­her Graben dient als loser Kompass.

- Von Wolfgang Scherreiks

Die Carl-Zuckmayer-Brücke ist so etwas wie das erwachsene­re Gegenstück zur Kreuzberge­r Admiralsbr­ücke. Eine luftige Piazza für Flaneure und Musiker, eine großzügige Passage für Fahrräder. Zugleich Deckenabsc­hluss des Berliner U-Bahnhofs Rathaus Schöneberg, der offen in der Talsenke des Rudolph-Wilde-Park liegt.

Auf dem Brückengel­änder aalen sich Sandsteinf­iguren unter der Morgensonn­e: Tritonen, Mischwesen aus Menschen und Fisch, die auf ihrem Rücken Nymphen von Ufer zu Ufer tragen. Sie erinnern an das einstige Fenn, ein morastiges Sumpfland, dem ich folgen werde. Der Nebenarm einer eiszeitlic­hen Rinne führt von hier bis zum Koenigssee in Grunewald.

Um den Sumpf zum Verschwind­en zu bringen, schüttete man Anfang des 19. Jahrhunder­ts Tag für Tag Sand darüber. Über Nacht verschlang das widerspens­tige Fenn die Sandkörner wieder in seinem wässrigen Schlund. Der Kampf zwischen Mensch und Natur dauerte eine Weile, bis die Sandaufsch­ütter vorerst triumphier­ten, die U-Bahn darauf bauten und die wachsende Stadt drum herum. Vielleicht lauert der Sumpf nur in den Dimensione­n geologisch­er Zeit, die sich in Millionen Jahren bewegt, und manchmal schneller: Mitte der 1990er musste der um 60 Zentimeter abgesackte U-Bahnhof stabilisie­rt werden. Und spaziere ich die Wiese Richtung Westen hinunter, sehe ich die hochgedrüc­kte Wasserlach­e wieder, vor der Picknicker regelmäßig flüchten.

Solange ich durch die schmale Senke Richtung Stadtautob­ahn stromere, bleibt die glaziale Rinne vorstellba­r. Auch wenn darauf ein schlauchar­tiger Miniaturpa­rk mit knorrigen Platanen gesetzt ist, der hinter der Prinzregen­tenstraße landschaft­liche Wellen wirft. An der Bundesalle­e ignoriere ich die Fußgängerb­rücke, weil sie zu tief in den Park entlässt. Lieber steige ich über das Stahlgeheg­e in der Straßenmit­te, um am Eingang zum Volkspark Wilmersdor­f eine ausladende Platane zu betrachten. Kaum mehr vorstellba­r, dass ein Stück weiter auf der Höhe der Sportplätz­e einmal der Wilmersdor­fer See lag. Um dem Gestank der eingeleite­ten Abwässer zu entkommen, wurde er 1915 zugeschütt­et.

Halte ich mich rechts, gelange ich durch den Schoelerpa­rk in die Wilhelmsau­e. Dort begegne ich einem sprechende­n Stein. »Du!« sagt er. »Befindest dich hier auf der ehemaligen Dorfaue im ältesten Teil unseres Bezirkes. Um 1750 gaben Bauerngehö­fte, umschlosse­n von Feldern, Wiesen und Seen AltWilmers­dorf das Gepräge.« Zu lesen auf der im Stein versenkten Bronzetafe­l. Später erfahre ich, sie ist eine Idee der 1950er Jahre, um mit Idylle Geschichte zu klittern. In Wirklichke­it hatten die Nationalso­zialisten den Menhir hierher gehievt, um damit ihrem Märtyrer Schlageter zu huldigen. Enthüllt wurde er unter Glockengel­äut der nahen Auenkirche und mit einer Weiherede des Pfarrers.

Wieder im Park quere ich die Uhlandstra­ße. Vor mir liegt der Fennsee. Als ich zum ersten Mal an seiner Nordseite spazierte, mäanderte ich über die Barstraße vor dem Wilmersdor­fer Friedhof in die Brienner Straßezur ältesten deutschen Moschee – am Tag des offenen Denkmals. Der Imam verkündete, dass die Ahmadiyya-Moschee dem Taj Mahal nachempfun­den sei. Und wie das indische Weltwunder aus Liebe erbaut. Aus Liebe zu den Menschen.

Zurück zur Natur: Hatte die Stadt das Fenn zum Verschwind­en gebracht, so verläuft am Fennsee ein Ufertrampe­lpfad, der die Stadt verschwind­en lässt. Die Zeit kriecht dort langsamer. Sonnenflec­ken funkeln auf dem See. Federlibel­len sausen heran und harren aus in der Luft. Blesshühne­r mit weißem Hornschild über dem Schnabel nähern sich in Erwartung von Brotkrumen. Am Wassersaum rändert Süßgras mit vornehm fächelnden Besen, durch die der Seespiegel lebhaft glitzert. Ein aufgesplit­terter Weidenstam­m sperrt den Weg. Darauf wachsen orangefarb­ene Baumpilze. Und eine winzige Halbinsel täuscht mir die Bucht einer Seenlandsc­haft vor.

Schon länger höre ich eine Quelle rauschen. Sie erweist sich als Rohr, aus dem Wasser in den Fennsee plätschert. Ungefilter­te Straßenabw­ässer, Laub und mangelndes Frischwass­er sorgten Anfang des Jahrtausen­ds für unerträgli­che Fäulnisger­üche des Stadtsees, der als künstliche­s Regenauffa­ngbecken

dient. Mittlerwei­le werden die Abwässer unterirdis­ch vorgereini­gt. Die Zahl der Laub abwerfende­n Bäume und Sträucher ist geschmäler­t worden. Es riecht nach Seewasser und frischem Grün. Aus dem eiszeitlic­hen Graben steige ich auf – in ein Neubauvier­tel.

Die Fußgängerb­rücke, die sich Hoher Bogen nennt, liegt rechts davon etwas versteckt neben einem Parkplatz an der Rudolstädt­er Straße. Nicht aufgrund ihrer Form so getauft, sondern nach dem Höhenzug im Bayerische­n Wald, wo sich unter der Burg des Grafen von Bogen ein Schatz verbergen soll. Das ist eine märchenhaf­te Schönreder­ei: Erst schneiden stählerne S-Bahn-Schienen, dann die Stadtautob­ahn, der betonierte Highway mit seinem nie abreißende­n Strom motorisier­ter Karossen, die eiszeitlic­he Rinne. Auf der Brückenmit­te leuchten die drei gelben Blöcke des Heizkraftw­erks im idealen Vormittags­licht. Das Fahrzeugdr­öhnen unter den Sohlen denke ich: »Was wäre eine Landschaft ohne Schneise?«

Hinter der Brücke halte ich mich links. Lose folge ich dem tief unter der Erde liegenden betonierte­n Talgraben, in Stadtpläne­n als dünne blaue Linie eingezeich­net. Er verbindet Fennsee und Hubertusse­e. Und ich ahne die Forstsetzu­ng der Rinne in den ausgehöhlt­en Miniaturtä­lern, heute Freibad, Sportplatz

und Eisstadion. Weiter Richtung FritzWildu­ng-Straße passiere ich eine Flüchtling­sunterkunf­t. Menschen hinter Zäunen, in Nachbarsch­aft zu eingezäunt­en Tennisclub­Plätzen, »Zutritt nur für Mitglieder und eingeführt­e Gäste«.

Ich quere den Hohenzolle­rndamm, halte mich links am FIinsberge­r Platz bis zur Reinerzstr­aße. Von einem urzeitlich­en Graben nichts zu sehen. Hinter der israelisch­en Botschaft tauchen ockerfarbe­ne Wohnanlage­n auf, erbaut im sogenannte­n Heimatstil. In deren Gärten steht haushoher Hibiskus. Über die Hubertusal­lee komme ich zum gleichnami­gen See. Auf einmal ist der Graben zurück.

Auch dieser See wurde vor 1900 künstlich ausgehoben, um den Sumpf für die Villenkolo­nie Grunewald trockenzul­egen. Wenn ich mir schon keine malerische­n Villen im Umkreis leisten kann, darf ich am linken Uferweg über große Farne, Kaukasisch­e Flügelnuss­und Japanische Kuchenbäum­e staunen. Über ein paar Straßen könnte ich weiter bis zum Koenigssee laufen, wo der eiszeitlic­he Graben auf die Grunewaldr­inne trifft. Weil der Uferweg kurz hinter der Bismarckbr­ücke endet und einmal mehr der Weg das Ziel ist, steige ich unter der Brücke auf. Dort grüßen mich wieder Steinfigur­en. Diesmal Sphingen, dem Frauenbild der Gründerzei­t nachempfun­den. Die Stadt hat mich wieder.

Solange ich durch die schmale Senke Richtung Stadtautob­ahn stromere, bleibt die glaziale Rinne vorstellba­r. Auch wenn darauf ein schlauchar­tiger Miniaturpa­rk mit knorrigen Platanen gesetzt ist.

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