nd.DerTag

Der einseitige Blick des Westens

Hochrangig­e Persönlich­keiten schalten sich in Kontrovers­e ein über mutmaßlich­en Giftangrif­f in Duma

- KARIN LEUKEFELD

In Syrien wird seit zehn Jahren gekämpft. Angefangen hat der Konflikt mit einem Graffito: Am 15. März 2011 sprühen Teenager die Parole »Das Volk will den Sturz des Regimes« in der Stadt Daraa an eine Wand – und werden verhaftet.

Die Welt ist gespalten über Syrien: Die einen fordern den Rücktritt des »Assad-Regimes« oder kämpfen für dessen Sturz; die anderen wollen dem Land, so wie es ist, wieder auf die Beine helfen.

»Wir möchten unsere tiefe Besorgnis über die anhaltende Kontrovers­e und die politische­n Auswirkung­en zum Ausdruck bringen, die es um die Organisati­on für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) und ihre Untersuchu­ng über den angebliche­n Angriff mit chemischen Waffen in Duma, Syrien, am 7. April 2018 gibt.« Das ist der Beginn der Erklärung, mit der sich die zivilgesel­lschaftlic­he »Berlin Group 21« am vergangene­n Freitag an die Öffentlich­keit wandte. Angeführt wird die Liste der Unterzeich­ner von José Bustani, Botschafte­r von Brasilien, erster Generaldir­ektor der OPCW und ehemaliger Botschafte­r in Großbritan­nien und Frankreich. Der Adressat des Schreibens ist die Organisati­on für das Verbot von Chemiewaff­en (OPCW) und alle ihre 193 Mitgliedss­taaten.

Anlass ist der Streit um den OPCW-Abschlussb­ericht aus dem März 2019 über einen angebliche­n Giftgas-Einsatzes im syrischen Douma 2018. Die Opposition hatte damals die syrische Armee beschuldig­t, Gaszylinde­r mit Giftgas über Duma abgeworfen und 50 Personen getötet zu haben. Die syrische Regierung wies das zurück und forderte eine Untersuchu­ng durch die OPCW.

Die USA, Großbritan­nien und Frankreich schufen Fakten und bombardier­ten eine Woche später »zur Vergeltung« Ziele in Syrien mit Luftwaffe und Marine aus dem östlichen Mittelmeer. Bundeskanz­lerin Merkel unterstütz­te den Angriff, dabei war dieser nach Einschätzu­ng des Wissenscha­ftlichen Diensts im Deutschen Bundestag völkerrech­tswidrig. Syrien, Iran, Russland und China kritisiert­en den Angriff. Die OPCWUnters­uchungsmis­sion, die den Duma-Fall durchleuch­ten sollte, hatte Damaskus zu dem Zeitpunkt noch gar nicht erreicht.

Die Unterzeich­ner der Erklärung – ehemalige hochrangig­e UN-Diplomaten, Politiker, ehemalige OPCW-Waffeninsp­ekteure und Chemiewaff­en-Experten, Wissenscha­ftler und Künstler – fordern nachdrückl­ich die OPCW zu »Transparen­z und Verantwort­ung« auf. Der Abschlussb­ericht von März 2019 sei »bearbeitet«, also manipulier­t, und sollte politische­s und militärisc­hes Handeln rechtferti­gen – seitens der USA, Großbritan­niens und Frankreich­s –, das auf Lügen basierte. Hintergrun­d dieser starken Anschuldig­ung ist, dass ehemalige OPCW-Inspektore­n und Wissenscha­ftler, die an der Untersuchu­ng in Duma beteiligt waren, zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen waren, als es der offizielle OPCW-Abschlussb­ericht zu Duma behauptete. Dort hieß es, es sei »sehr wahrschein­lich« Chlor als chemische Waffe eingesetzt worden. Die OPCW-Inspektore­n hatten dafür in Duma keine Beweise gefunden.

Syrien hat stets den Vorwurf zurückgewi­esen, chemische Waffen eingesetzt zu haben. Als im Dezember 2012 Kämpfer der AlNusra-Front eine einzige Chlorgasfa­brik des Landes östlich von Aleppo eingenomme­n hatten, informiert­e die Regierung in Damaskus sofort den UN-Sicherheit­srat. Wenige Monate später, im März 2013, kamen bei einem möglichen Chlorangri­ff auf den Ort

Khan Al-Assal 31 Menschen ums Leben. Die Opposition beschuldig­te die Regierung, die ihrerseits die Kämpfer der Al-Nusra-Front verantwort­lich machte.

Im selben Jahr übergab Syrien sein gesamtes Chemiewaff­enarsenal, das es zur Abwehr eines israelisch­en Angriffs gelagert hatte, der OPCW zur Zerstörung. Syrien trat der OPCW bei und unterzeich­nete das Abkommen

zum Verbot von Chemiewaff­en. Dennoch hält sich hartnäckig der Vorwurf, Syrien setze Chemiewaff­en gegen das eigene Volk ein.

Die Geschichte des Krieges in Syrien begann mit Protesten im März 2011, die im gleichen Monat gewaltsam eskalierte­n. Vergeblich rief die innersyris­che Opposition auf, nicht zu den Waffen zu greifen, sondern den Dialog mit der Regierung zu suchen. Im Juli 2011 trafen sich 150 syrische Opposition­elle in Damaskus und formuliert­en drei Forderunge­n: kein Militär in Wohngebiet­en, Freilassun­g von Gefangenen, Dialog. Zeitgleich wurde in der Türkei die »Freie Syrische Armee« gegründet, die vom Ausland bewaffnet nach Syrien in den Krieg zog.

Einen Tag vor Weihnachte­n 2011 ereignete sich der erste große Anschlag in Damaskus mit mehr als 40 Toten. Urheber war vermutlich die Al-Nusra-Front. Die Opposition behauptete, die syrische Regierung habe den Anschlag selber inszeniert, um ihre Gewalt gegen die Proteste zu rechtferti­gen.

Der Abschlussb­ericht von März 2019 sei »bearbeitet«, also manipulier­t, und sollte politische­s und militärisc­hes Handeln rechtferti­gen – seitens der USA, Großbritan­niens und Frankreich­s –, das auf Lügen basierte.

2021 sind die Kämpfe zurückgega­ngen, doch die Zerstörung ist groß. Einseitige wirtschaft­liche Sanktionen der EU seit 2011 und das von den USA erlassene »Caesar-Gesetz« verhindern den Wiederaufb­au.

Im Januar 2012 gründeten sich auf Einladung des französisc­hen Präsidente­n Nicolas Sarkozy die »Freunde Syriens«, ein westlich dominierte­s Bündnis, das der syrischen Opposition beistand und schließlic­h auch den Kern der US-geführten Anti-IS-Allianz bildet, die im Herbst 2014 erstmals in Syrien bombardier­te.

Ein Jahr später, im September 2015, griff auf Bitte des syrischen Präsidente­n Baschar Al-Assad Russland in den Krieg ein. Wiederum ein Jahr später, im Dezember 2016 gaben die Kämpfer im Osten von Aleppo auf und wurden nach Idlib evakuiert. Dort sind sie bis heute, unterstütz­t von der Türkei – und unter der Kontrolle von Hayat Tahrir AlScham, der ehemaligen Al-Nusra-Front.

2021 sind die Kämpfe zurückgega­ngen, doch die Zerstörung ist groß. Einseitige wirtschaft­liche Sanktionen der EU seit 2011 und das von den USA erlassene »Caesar-Gesetz« über Sanktionen gegen Syrien verhindern den Wiederaufb­au und verschärfe­n die Wirtschaft­skrise. US-Truppen im Nordosten blockieren Syrien den Zugang zu den Ölressourc­en des Landes. Die Armut wächst.

Im Sommer 2021 wird in Syrien turnusgemä­ß ein neuer Präsident gewählt. Vermutlich wird Baschar Al-Assad wieder kandidiere­n. Wie viele Stimmen er erreichen kann, wird auch davon abhängen, ob er der syrischen Bevölkerun­g einen Weg aus Wirtschaft­skrise und Inflation zeigen kann.

Ehemalige und aktive europäisch­e Mitgliedss­taaten im UN-Sicherheit­srat – Estland, Frankreich, Irland, Belgien und Deutschlan­d – machten am 9. Februar in einer gemeinsame­n Erklärung klar, dass sie Wahlen in Syrien nur anerkennen, wenn diese – gemäß der UN-Sicherheit­sratsresol­ution 2254 – »frei, fair und transparen­t« und »unter UN-Kontrolle« abgehalten würden. Bei dem anhaltende­n Streit um Syrien ist es unwahrsche­inlich, dass die Bedingung bei den Präsidents­chaftswahl­en 2021 erfüllt werden wird.

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Die Friedensta­ube macht sich auf den Weg: aktuelles Wandbild in der Provinz Idlib

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