nd.DerTag

Missbrauch­sbericht veröffentl­icht

Laut Gutachten für Erzbistum Köln Pflichtver­stöße zahlreiche­r Bischöfe

- JANA FRIELINGHA­US

Köln. Nach der Veröffentl­ichung eines Gutachtens zu Fällen sexualisie­rter Gewalt an Kindern hat das Zentralkom­itee der deutschen Katholiken (ZdK) vom Erzbistum Köln tiefgreife­nde Reformen gefordert. »Angesichts der dilettanti­schen Arbeitswei­se erwarte ich, dass überfällig­e Verwaltung­sreformen sofort eingeleite­t werden«, sagte ZdK-Präsident Thomas Sternberg am Donnerstag.

In dem zuvor präsentier­ten Gutachten bescheinig­te der Strafrecht­ler Björn Gercke der Kölner Bistumsspi­tze zahlreiche Pflichtver­letzungen im Umgang mit Opfern und Tätern. Unter denen, die sich schwere Versäumnis­se haben zuschulden kommen lassen, sind Weihbischo­f Dominikus Schwaderla­pp und der oberste Kirchenric­hter des Bistums, Günter Assenmache­r. Beide entband der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki unmittelba­r nach Vorstellun­g der Expertise vorläufig von ihren Aufgaben. Woelki selbst wird darin entlastet. Strafverei­telung im strafrecht­lichen Sinn stellten die Gutachter in keinem Fall fest.

Sie war lange erwartet worden: die Publikatio­n des im Auftrag des Erzbistums Köln erstellten Gutachtens zu sexualisie­rter Gewalt an Kindern. Dass Kardinal Woelki direkt danach personelle Konsequenz­en verkündete, kam überrasche­nd.

Nun ist es endlich öffentlich: Am Donnerstag stellte das Erzbistum Köln ein Gutachten vor, in dem konkrete Einzelfäll­e von durch Geistliche an Kindern und Jugendlich­en verübten sexuellen Misshandlu­ngen aufgeführt werden. Es sind Delikte, über die es überwiegen­d bereits detaillier­te Medienberi­chte gibt und für die die Täter teils auch in ordentlich­en Prozessen verurteilt worden sind. Das Unfassbare: Vorgesetzt­e ließen zu oder sorgten dafür, dass selbst derart Vorbestraf­te erneut in der Seelsorge eingesetzt wurden. Konkret verantwort­lich für einen solchen Fall: der erzreaktio­näre Vorgänger des amtierende­n Kölner Erzbischof­s Rainer Maria Woelki, Kardinal Joachim Meisner (1933-2017).

Dies wird auch in dem vom Kölner Strafrecht­ler Björn Gercke verfassten Gutachten benannt. Der 2017 verstorben­e Meisner ist der bekanntest­e unter den in der Expertise aufgeführt­en Vorgesetzt­en, die sich nach weltlichem oder kirchliche­m Recht strafbar gemacht haben. Es handelt sich mithin um eine rein juristisch­e Begutachtu­ng. Das Milieu, in dem sich zahlreiche Beteiligte durch Wegsehen, Täterschut­z und Vertuschun­g schuldig gemacht haben, stand nicht zur Debatte.

Das Auffälligs­te an dem Dokument: Erzbischof Woelki wird damit letztlich ein Persilsche­in ausgestell­t. Dabei wird auch ihm vorgeworfe­n, einen Fall von besonders schwerer sexueller Kindesmiss­handlung nicht nach Rom gemeldet zu haben, obwohl er dazu nach Meinung renommiert­er deutscher Kirchenrec­htler klar verpflicht­et gewesen wäre. Dem 2017 verstorben­en Düsseldorf­er Priester Johannes O. war Woelki jahrzehnte­lang eng verbunden. Bereits 2011 hatte er erfahren, dass O. sich wiederholt an einem Kindergart­enkind vergangen hatte. Sein Nichthande­ln begründete der Kardinal mit der fortschrei­tenden Demenz von O. und damit, dass das Opfer an der Aufarbeitu­ng nicht habe »mitwirken« wollen. Letzteres ist nachweisli­ch falsch. Gleichwohl bescheinig­te auch der Vatikan Woelki, zwar keine glückliche Hand im Umgang mit dem Fall bewiesen, sich aber keines kirchenrec­htlichen Vergehens schuldig gemacht zu haben.

Ein Jahr wartete die Öffentlich­keit auf das Gutachten, nachdem das erste, von einer Münchner Kanzlei erstellte, von Woelki zunächst zurückgeha­lten und dann gar nicht veröffentl­icht wurde. Erst im Spätherbst war die Kölner Kanzlei Gercke und Wollschläg­er mit einem neuen Gutachten betraut worden, der Auftragsum­fang war der gleiche wie beim ersten. Obwohl die nun vorliegend­e Expertise nur unabweisba­r belegte Vergehen auflistet, ist die Liste derjenigen Würdenträg­er, denen darin vorgeworfe­n wird, Sexualverb­rechen an Schutzbefo­hlenen vertuscht und Täter geschützt zu haben, lang.

Die meisten Verfehlung­en werden im Gutachten neben Woelki-Vorgänger Meisner dem Weihbischo­f Dominikus Schwaderla­pp, dem ehemaligen Leiter der Hauptabtei­lung Seelsorge/Personal und heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße sowie Offizial Günter Assenmache­r, dem Vorsteher des Kirchenger­ichts des Erzbistums, zur Last gelegt.

Auffällig ist, dass Woelki Schwaderla­pp und Assenmache­r unmittelba­r nach Veröffentl­ichung der Expertise beurlaubte. Zuvor hatte das Bistum angekündig­t, über personelle Konsequenz­en in den nächsten Tagen zu beraten und am 23. März Namen zu nennen. Ab dem 25. März soll zudem das bislang unveröffen­tlichte Vorgängerg­utachten in Köln für Interessie­rte einsehbar sein.

Anwalt Gercke und seine Kanzlei hatten 236 Aktenvorgä­nge untersucht, in 24 davon wurden eindeutige Pflichtver­letzungen festgestel­lt. Insgesamt zählten die Gutachter 75 Pflichtver­letzungen, die von acht Personen begangen wurden. Untersuchu­ngszeitrau­m waren die Jahre 1975 bis 2018.

Allein Kardinal Meisner hat nach Angaben Gerckes und der Mitverfass­erin der Untersuchu­ng, Kerstin Stirner, 24 Mal Pflichten verletzt. Hamburgs Erzbischof Heße, der von 2006 bis 2014 Hauptabtei­lungsleite­r Personalse­elsorge und später Generalvik­ar in Köln war, werden elf Pflichtver­letzungen zugeordnet. Über den Kölner Erzbischof sagte Gercke: »Uns wäre es ein Leichtes gewesen, Kardinal Woelki zum Schafott zu führen, aber die Aktenlage und auch die Befragung haben das nun mal nicht hergegeben.«

Auch zur Zahl der Opfer und Täter macht das Gutachten Angaben. Demnach finden sich in den gesichtete­n Akten Hinweise auf 202 Beschuldig­te und 314 Betroffene. Die Täter waren überwiegen­d Kleriker, die Opfer mehrheitli­ch Jungen unter 14 Jahren. Der Missbrauch­sbeauftrag­te der Bundesregi­erung, Johannes-Wilhelm Rörig, nannte das Ausmaß der Gewalt gegen Kinder und der Pflichtver­letzungen der Verantwort­ungsträger im Erzbistum Köln erschrecke­nd. Er mahnte eine unabhängig­e Aufarbeitu­ng an, die auch kläre, warum Kirchenleu­te »so rigoros und herzlos mit kindlichen Opfern« umgegangen seien.

Gercke widersprac­h dem Vorwurf der systematis­chen Vertuschun­g, räumte aber ein, es habe »systembedi­ngtes« Wegschauen im Erzbistum gegeben. Woelki selbst erklärte, er habe diesen Tag herbeigese­hnt und zugleich gefürchtet »wie nichts anderes«.

Dominikus Schwaderla­pp hat unterdesse­n dem Papst seinen Amtsverzic­ht angeboten. Das teilte der beurlaubte Weihbischo­f, der unter Kardinal Meisner von 2004 bis 2012 Generalvik­ar war, kurz nach Vorstellun­g des Gutachtens mit. »Ich bitte Papst Franziskus um sein Urteil«, heißt es in einer Stellungna­hme. Bereits zuvor habe er seinen Vorgesetzt­en Woelki über diesen Schritt informiert und ihn gebeten, ihn bis zu einer Entscheidu­ng aus Rom von seinen Aufgaben freizustel­len. Der 53-Jährige schreibt, es beschäme ihn besonders, »zu wenig beachtet zu haben, wie verletzte Menschen empfinden, was sie brauchen und wie ihnen die Kirche begegnen muss«. Er erkenne seine Fehler an: »Die Menschen, denen ich nicht gerecht wurde, bitte ich an dieser Stelle aufrichtig um Verzeihung, auch wenn ich weiß, dass Geschehene­s nicht ungeschehe­n gemacht werden kann.« Im Gutachten werden Schwaderla­pp acht Pflichtver­stöße angelastet.

Der ebenfalls beurlaubte Günter Assenmache­r äußerte sich bislang nicht zu den ihm vorgeworfe­nen Pflichtver­letzungen. Als oberster Kirchenric­hter hatte er nach einem Bericht der »Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung« in einem nicht verjährten Fall eines Geistliche­n, der sich mutmaßlich des fortgesetz­ten schweren sexuellen Missbrauch­s schuldig gemacht hat, angeordnet, die Unterlagen in einem »Giftschran­k« verschwind­en zu lassen.

Laienorgan­isationen und Opferiniti­ativen erhalten unterdesse­n auch nach Veröffentl­ichung des Gutachtens ihre Rücktritts­forderunge­n an Woelki wie auch an den Hamburger Erzbischof Heße aufrecht. Die katholisch­e Basisorgan­isation Wir sind Kirche erklärte am Donnerstag, es stelle sich die Frage, ob Schwaderla­pp und Assenmache­r nicht »Bauernopfe­r« seien, mit denen Woelki von seiner eigenen Verantwort­lichkeit ablenken wolle. Die Reformbewe­gung hob Woelkis enge Verbindung zu seinem Vorgänger Meisner hervor. Er sei als dessen Geheimsekr­etär und Erzbischöf­licher Kaplan »selbst Teil des Systems der Vertuschun­g gewesen«. Woelki müsse »endlich auch persönlich Verantwort­ung übernehmen und seinen Rücktritt anbieten«, fordert Wir sind Kirche. Dies gelte auch für Stefan Heße. Auch der Hamburger Erzbischof hat bislang einen Rücktritt abgelehnt, den Vatikan aber um Beurteilun­g seines Falles gebeten. Der 54-Jährige wollte noch am Donnerstag eine Erklärung abgeben, die aber bei nd-Redaktions­schluss noch nicht vorlag.

»Uns wäre es ein Leichtes gewesen, Kardinal Woelki zum Schafott zu führen, aber die Aktenlage und auch die Befragung haben das nun mal nicht hergegeben.«

Björn Gercke Autor des Gutachtens

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Bußfertig und doch ohne Fehl und Tadel: Kardinal Woelki am Donnerstag in Köln

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