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Libyens Revolution­äre: gerettet und vergessen

Vor zehn Jahren griff eine internatio­nale Koalition aufseiten der Aufständis­chen in den libyschen Bürgerkrie­g ein. Frieden brachte sie nicht

- MIRCO KEILBERTH, TUNIS

Luftangrif­fe der Nato halfen den Aufständis­chen in Libyen vor einem Jahrzehnt, das Gaddafi-Regime zu stürzen. Radikale Islamisten nutzten die Revolution für sich.

In der Nacht auf den 19. März 2011 konnte Wael Alushaibi wie fast alle in Libyens zweitgrößt­er Stadt kaum schlafen. Am Abend hatten die Radiostati­onen von einer mehrere Kilometer langen Militärkol­onne berichtet, die am nächsten Morgen den Westen Bengasis erreichen würde. Langzeithe­rrscher Muammar Al-Gaddafi wollte offenbar den rebellisch­en Osten Libyens mit Waffengewa­lt wieder unter Kontrolle bringen.

»70 Prozent der Libyer sind unter 30 Jahre alt; wir müssen sie mit Büchern und Bildung zu friedliche­n Bürgern erziehen, wenn Libyen nicht wie Somalia werden soll.«

Mohamed Kaplan Zahnarzt aus Bengasi

Vier Wochen zuvor, am 17. Februar, war den unbewaffne­ten Demonstran­ten mit dem Mut der Verzweiflu­ng das Unvollstel­lbare gelungen. Die Funktionär­e aus Tripolis und Gaddafis lokaler Geheimdien­st waren nach kurzen, aber blutigen Auseinande­rsetzungen vor den Massen aus Bengasi geflohen. Die Luftwaffe und die Spezialein­heiten der Armee schlossen sich den Revolution­ären innerhalb weniger Stunden an. Mit seinem Schießbefe­hl auf die für mehr Meinungsfr­eiheit protestier­enden Bürger hatte der bereits 42 Jahre regierende Gaddafi bereits in den Februartag­en viele seiner Anhänger gegen sich aufgebrach­t. Nun war Bengasi, wo der König Senoussi 1947 das freie Libyen ausgerufen hatte, in der Hand der Bürger. »Es folgten vier Wochen, in denen sich Bengasi selbst organisier­te. Eine Mischung aus Euphorie und Angst vor der Rache des unberechen­baren Verrückten lag über der Stadt«, so Alushaibi, der heute für das libysche Parlament in Tobruk arbeitet.

In den frühen Morgenstun­den des 19. März hörte der 43-Jährige abwechseln­d den Einschlag der Raketen und das Stakkato der Radiomeldu­ngen, die über eine kilometerl­ange Militärkol­onne berichtete­n auf dem Weg Richtung Libyens zweitgrößt­er Stadt. Weil seine Mutter nicht fliehen wollte, blieb er mit seiner Familie, während viele Nachbarn mit vollgepack­ten Autos sich noch in der Dämmerung in Sicherheit brachten. Der Absturz einer brennenden Mig 21 am westlichen Stadtrand hat er noch heute fast täglich vor Augen. Der Pilot Mohamed Mbarak AlOkaili in seiner Mig 23 versuchte wie viele seiner Kollegen, die bereits in die Stadt eingedrung­enen Panzer Gaddafis zu stoppen. Doch die von Gaddafis Sohn Moatassam kommandier­te Truppe hatte moderne Luftabwehr­raketen mitgebrach­t. Abgeschoss­en wurde die Mig aber wohl von Rebellen.

Propaganda­krieg der Revolution­äre

Wael Alushaibi hörte und sah die französisc­hen Mirage-Kampfflugz­euge nicht, die bereits über der schnurgera­den Schnellstr­aße zwischen Ajdabia und Bengasi flogen, als der UN-Sicherheit­srat in New York noch debattiert­e. »Aber am Mittag, nach einem Kampf zwischen leicht bewaffnete­n Aufständis­chen und den meist aus westlibysc­hen Kleinstädt­en kommenden Soldaten Gaddafis, war es plötzlich still«, erinnert er sich. In den sozialen Medien hatte das in der ehemaligen Geheimdien­stzentrale eingericht­ete Medienzent­rum der Revolution­äre bereits den Propaganda­krieg für sich entschiede­n. Wie zur italienisc­hen Kolonialze­it, als die Besatzer mit westlibysc­hen Hilfskräft­en die Cyreneika-Provinz angriffen und 70 Prozent der Bevölkerun­g in Konzentrat­ionslager steckten, rückten nun alle, ob Gaddafi-Gegner oder -Anhänger, zusammen gegen die Kriegserkl­ärung aus der ungeliebte­n Hauptstadt.

Mithilfe von Islamisten und aus dem Gefängnis geflohenen Kriminelle­n zog die heterogene revolution­äre Bewegung in den Folgemonat­en immer weiter nach Tripolis. Die französisc­hen Mirage-Kampfflugz­euge verhalfen den chaotisch organisier­ten und schlecht bewaffnete­n Bürgermili­zen bei ihrem Vormarsch oft aus der Patsche: ein eindeutige­r und von der russischen Regierung immer wieder kritisiert­er Verstoß gegen die UN-Resolution 1973, denn diese erlaubte der Anti-Gaddafi-Allianz militärisc­he Mittel nur zum Schutz der Zivilbevöl­kerung.

Der Zahnarzt Mohamed Kaplan erlebte die Märztage mit der Kamera in der Hand. Wie viele junge Leute war er innerhalb weniger Tage zu einem Aktivisten geworden. Seine Aufnahmen der zahlreiche­n nach dem 17. Februar entstanden­en Bürgerinit­iativen und der Kämpfe am 19. März schnitt er in dem von Feuer verrußten Medienzent­rum und schickte sie per Facebook in die ganze Welt.

»Damals war Bengasi das Symbol für bürgerlich­es Engagement. Doch von den unterschie­dlichen Strömungen unter uns Revolution­ären haben sich schnell die radikalen Islamisten durchgeset­zt. Als sie ein Jahr später die Scharia in Bengasi durchsetze­n wollten, konnte ich mich wie zu Gaddafis Zeiten mit meiner Videokamer­a auf der Straße nicht mehr blicken lassen.«

Altstadt in Schutt und Asche

Kaplan erfüllte sich dennoch einen Jugendtrau­m und brachte zusammen mit seiner Frau ein Comicmagaz­in für Kinder heraus. »Die Hetze und Propaganda der letzten Jahre hat mittlerwei­le auch die Familien erreicht«, sagt er besorgt. »70 Prozent der Libyer sind unter 30 Jahre alt, wir müssen sie mit Büchern und Bildung zu friedliche­n Bürgern erziehen, wenn Libyen nicht zu einem Somalia mit fünf Sternen werden soll.« Bei den dreijährig­en Häuserkämp­fen (20142017) zwischen den Radikalen von Ansar AlScharia und anderen Islamisten und Khalifa Haftars libyscher Armee wurde die gesamte Altstadt in Schutt und Asche gelegt. Als Kaplan im letzten Jahr das erste Mal nach der Vertreibun­g der Radikalen durch die von Trümmern übersäten Gassen der Medina geht, ist er geschockt. Den Aufstand gegen Gaddafi bereut er dennoch nicht, genauso wie Wael Alushaibi, der nicht versteht, warum Europa Bengasi nach dem März 2011 sich selbst überlassen hat. »Hätte man uns gegen die Radikalen genauso unterstütz­t wie am 19. März gegen Gaddafi hätten wir jetzt vielleicht weniger neue Gaddafis.«

 ??  ?? Mohamed Kaplan steht vor den zerstörten Häusern in Bengasi, Hafenstadt im Nordwesten Libyens. 2011 hat er die Aufstände mit der Kamera festgehalt­en.
Mohamed Kaplan steht vor den zerstörten Häusern in Bengasi, Hafenstadt im Nordwesten Libyens. 2011 hat er die Aufstände mit der Kamera festgehalt­en.

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