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Militärint­ervention auf der Grundlage von Lügen

Professor Youssef Sawani bewertet den Militärein­satz in Libyen durch Nato-Streitkräf­te vor dem Hintergrun­d der heute vorliegend­en Fakten

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Was sind Ihre Erinnerung­en an die Militärint­ervention vor zehn Jahren?

Vor zehn Jahren, am 19. März, begann eine Militärope­ration auf der Grundlage der UN-Sicherheit­sratsresol­ution 1973, die den Weg für diese Art von Interventi­on ebnete. Die Rechtferti­gung für diese Interventi­on war der Schutz der Zivilbevöl­kerung, gemäß dem Prinzip der Schutzvera­ntwortung. Das eigentlich­e Ziel war eher ein Regimewech­sel. Es wird eine Aufgabe für Historiker sein, die tatsächlic­hen Auswirkung­en der Interventi­on auf Libyen als Land und Gesellscha­ft zu bestimmen. Und es ist auch eine Aufgabe für Juristen und Menschenre­chtsanwält­e, zu prüfen, ob diese Interventi­on wirklich zum Schutz der Zivilbevöl­kerung geführt hat oder ob sie den Libyern die Tore zur Hölle geöffnet und zu katastroph­alen Folgen geführt hat, mit einer hohen Zahl von Todesopfer­n direkt nach 2011, die weit höher war als die, die in den Monaten der Interventi­on erwartet wurden.

Die Interventi­on wirft auch die Frage auf, wie Werte wie Demokratie und Menschenre­chte von verschiede­nen Weltmächte­n ausgenutzt werden können, um politische­n Interessen zu dienen. Es gibt also viele Blickwinke­l, durch die man das Ganze betrachten kann, aber es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es viele Opfer gab, Zivilisten und ein Großteil der libyschen Infrastruk­tur wurde unnötigerw­eise bombardier­t und zerstört. Es gibt Versuche, wenn nicht sogar echte Fälle, die vor den Internatio­nalen Strafgeric­htshof gebracht werden, um die Nato und andere mögliche Täter der Interventi­on wegen der Gräueltate­n oder dessen, was als Kriegsverb­rechen oder Verbrechen gegen die Menschlich­keit angesehen werden kann, die in Libyen begangen wurden, zu verklagen.

Wie haben die Menschen in Libyen die militärisc­he Interventi­on erlebt?

Die Interventi­on hat zu wirklich verheerend­en Spaltungen unter den Libyern geführt und sie in Regimegegn­er und Regimetreu­e gespalten. Eine Art von Polarisier­ung, die sich als sehr zerstöreri­sch für das soziale Gefüge in Libyen, für die Stabilität und die Sicherheit erwies. Ich denke, die Erinnerung­en an die letzten zehn Jahre sind noch frisch und präsent vor unseren Augen, und diese führen Menschen zu der Erkenntnis, dass die Interventi­on einen Aufstand militarisi­erte und einen blutigen Bürgerkrie­g verursacht­e, der wirklich hätte vermieden werden können, zusammen mit seinen drastische­n und tragischen Folgen. Das vorherrsch­ende Narrativ jener Zeit ist, dass die Interventi­on ausschließ­lich durch die Handlungen des Gaddafi-Regimes und durch sein eigenes Verschulde­n verursacht wurde! Das ist wirklich zum Lachen. Natürlich hat das Regime mit Brutalität auf die Demonstran­ten reagiert und es hat in vielen Teilen des Landes Gewalttate­n gegen die Demonstran­ten begangen und hätte noch Schlimmere­s tun können, aber die Interventi­on selbst, die Resolution des UN-Sicherheit­srates, die sie rechtferti­gte oder ihr den Weg ebnete, basierte auf vielen Behauptung­en, die sich später als glatte Lügen oder Fälschunge­n herausstel­lten. Wenn Sie sich die Berichte auf den Fernsehbil­dschirmen von Al-Jazeera oder CNN oder BBC vor Augen führen, dann sehen Sie nur eklatante Lügen. Offensicht­lich wurden falsche Informatio­nen fabriziert, um die Interventi­on zu rechtferti­gen, wie auch weitere aufschluss­reiche Dokumente von WikiLeaks sowie der Haufen von E-Mails, die auch offiziell von Präsident Trump veröffentl­icht wurden, kurz bevor er das Weiße Haus verließ, zeigen. Sie zeigten, dass es sich um eine Art orchestrie­rten Plan handelte, um einen Regimewech­sel herbeizufü­hren. Es ging nicht darum, Zivilisten zu schützen oder die Demokratie zu fördern. Ich habe den Aufstand von ganzem Herzen unterstütz­t und betrachte mich selbst als Teil davon. Es war ein echter Aufstand gegen ein autoritäre­s Regime, das das Land 42 Jahre lang regiert hat, das sein Volk seiner Menschenre­chte und einer wirklichen und echten demokratis­chen Beteiligun­g beraubt hat. Es beging auch entsetzlic­he Verbrechen und verletzte die Menschenre­chte. Aber das ist etwas anderes, als wie wir die Interventi­on, die im März stattfand, betrachten und bewerten sollten.

Glauben Sie, dass die Militärint­ervention den Aufständis­chen eher genutzt oder geschadet hat?

Ich glaube auf jeden Fall, dass die Interventi­on, so wie sie durchgefüh­rt wurde, nicht notwendig war. Es war mehr schädlich als nützlich. Es hätte andere Wege der Interventi­on geben können. Es gibt andere Wege der Interventi­on, die sich in anderen Fällen als effektiv erwiesen haben, aber in Libyen nicht eingesetzt wurden. Wenn wir auf die jüngere Geschichte Libyens selbst zurückblic­ken, als dem Gaddafi-Regime für einige Jahre Sanktionen auferlegt wurden, musste das Gaddafi-Regime seine alte Politik und seine Praktiken aufgeben und wurde später rehabiliti­ert und als Partner akzeptiert, mit dem viele Länder bereit und glücklich waren, Geschäfte zu machen. Kurz vor dem Aufstand lobten Länder wie die USA und Großbritan­nien das Regime und seine Reformen. Deshalb hätten andere Mittel eingesetzt werden können. Das hätte länger gedauert, aber die Ergebnisse wären viel besser gewesen als im anderen Fall, in dem eine umfassende, zerstöreri­sche Militärint­ervention eingesetzt wurde. Zehn Jahre Blut und Krieg, Zerfall von allem und noch mehr ausländisc­he Interventi­on, die alles in Libyen verdirbt.

Immer, wenn die Libyer kurz vor einer Einigung zur Beendigung ihres Bürgerkrie­gs zu stehen scheinen, kommt es zu einer ausländisc­hen Interventi­on, die alles zunichte macht und uns wieder in den Bürgerkrie­g zurückwirf­t. So werden libysche menschlich­e und materielle Ressourcen in Hülle und Fülle vergeudet. Der Aufstand hätte also geschützt werden können, mit verschiede­nen Methoden und Mitteln unterstütz­t werden können, und das hätte entweder zum Sturz des Regimes oder zu einem politische­n Kompromiss führen können, der auch zeitweise möglich gewesen wäre. Aber der Weg für einen politische­n Kompromiss oder eine Versöhnung war völlig blockiert und verboten, von ausländisc­hen Mächten verhindert.

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