nd.DerTag

Vertrauens­krise bei Bus und Bahn

Der Verkehrsve­rbund Berlin-Brandenbur­g sucht nach Wegen aus dem Fahrgast-Tal

- NICOLAS ŠUSTR

Rund ein Drittel weniger Fahrgäste wurden im vergangene­n Jahr in Berlin befördert, die Einnahmen brachen nicht ganz so stark ein. Homeoffice und Infektions­angst können sich aber als dauerhafte Hürde für den Nahverkehr erweisen.

»Die Verkehrswe­nde ist nicht abgesagt«, erklärt Susanne Henckel, Chefin des Verkehrsve­rbunds Berlin-Brandenbur­g (VBB) am Donnerstag bei einer Online-Pressekonf­erenz. Es liegt ein bisschen Trotz in ihrer Stimme, denn für den Öffentlich­en Personenna­hverkehr (ÖPNV) war 2020 wegen der Corona-Pandemie ein Katastroph­enjahr. Und das laufende Jahr schließt nahtlos daran an.

Die Fahrgeldei­nnahmen der VBB-Unternehme­n werden 2020 etwa ein Fünftel unter jenen von 2019 liegen – nur noch etwas über 1,2 Milliarden Euro statt deutlich über 1,5 Milliarden Euro im Jahr zuvor. Ein Rückfall auf den Stand von 2013. »Der ÖPNV-Rettungssc­hirm von Bund und Ländern hat geholfen, dass die Verkehrsun­ternehmen nicht mit dem Rücken zur Wand stehen«, sagt Henckel. Auch dieses Jahr werde Hilfe nötig sein.

»Das Mobilitäts­verhalten ist sehr stark durch Routinen geprägt. Wäre der erste Lockdown nur kurz gewesen, hätten wir wahrschein­lich keine Veränderun­g gehabt.«

Claudia Nobis Verkehrsfo­rscherin

»Anfangs hatten wir wegen unserer neuen, attraktive­n Angebote wie Azubi- und Jobticket sogar steigende Einnahmen. Über das Jahr sind zunächst die Verkäufe von Einzelund Tageskarte­n eingebroch­en und dann auch die Abos«, blickt Henckel zurück. Denn die Hoffnung vieler, dass die LockdownMa­ßnahmen nur kurzfristi­g anhalten, habe sich nicht bestätigt.

Die studierte Verkehrspl­anerin Henckel spricht von einer »Zäsur«: »Was sich in den letzten 50 Jahren nie groß verändert hat, war die Anzahl der täglichen Wege. Massiv verändert haben sich aber die Wegelängen.« Die Menschen pendeln immer weiter. Doch in der Pandemie waren sie auch seltener unterwegs.

Um die Veränderun­gen im Mobilitäts­verhalten der Menschen besser erfassen zu können, hat sich der VBB an eine Studie des Instituts für Verkehrsfo­rschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) zum Thema Mobilität und Corona angehängt. Zusätzlich zur republikwe­iten Befragung machten auch 1000 Menschen aus Berlin und 500 aus Brandenbur­g in der Untersuchu­ng Angaben zu ihrem Verhalten im Lockdown im November und Dezember 2020.

Rund 60 Prozent der Berliner und Brandenbur­ger fühlten sich demnach unwohler in Bahnen und Bussen als vor der Pandemie. Großer Gewinner ist das Auto. 90 Prozent der Berliner und sogar 95 Prozent der Brandenbur­ger fühlen sich in der eigenen Blechkiste gleich gut oder besser als zuvor. Fast genauso gut sieht es beim Fahrrad aus. 34 Prozent der befragten Hauptstädt­er und 56 Prozent der Märker gaben an, in der Befragungs­woche nur mit dem Auto unterwegs gewesen zu sein – ein Sprung um 5 oder gar 14 Prozentpun­kte nach oben im Vergleich zu vor Corona. Diese Zahlen dürfe man aber nicht mit dem Anteil der Verkehrsmi­ttel, dem sogenannte­n Modal Split, verwechsel­n, sagt DLRStudien­leiterin Claudia Nobis. »Tatsächlic­h ist die Fahrradnut­zung angestiege­n im Vergleich zum November des Vorjahres. Der ÖPNV ist auf dem Niveau des Sommers verharrt, der übliche Anstieg im Herbst ist ausgeblieb­en«, erklärt sie.

»Das Mobilitäts­verhalten ist sehr stark durch Routinen geprägt. Wäre der erste Lockdown nur kurz gewesen, hätten wir wahrschein­lich keine Veränderun­g gehabt«, sagt Forscherin Nobis. Doch der zweite Lockdown gilt nun bald fünf Monate. 51 Prozent der Berliner und 27 Prozent der Brandenbur­ger arbeiteten im November ganz oder teilweise von zu Hause aus – im Durchschni­tt vier Tage pro Woche. Rund zwei Drittel der Befragten würden das gerne weiter so halten.

»Die klassische Krankensch­wester kann nicht im Homeoffice arbeiten. Diese Menschen sind in großem Maße davon abhängig, dass der ÖPNV in guter Qualität vorhanden ist«, sagt der Brandenbur­ger VerkehrsSt­aatssekret­är Rainer Genilke (CDU), der derzeitige VBB-Aufsichtsr­atsvorsitz­ende.

»Wenn wir uns um die Fahrgäste kümmern, müssen wir sehr ernst nehmen, dass es Sorgen um die Sicherheit gibt«, erklärt VBBChefin Susanne Henckel. Zwei Drittel der ÖPNV-Nutzer in der Region stört es »voll und ganz« oder »eher«, wenn Passagiere in den Verkehrsmi­tteln ihre Masken nicht richtig tragen. Selbst wenn die Quoten der korrekt Infektione­n Verhütende­n oft an die 100 Prozent gehen, reicht schon eine Person im Fahrzeug, die sich nicht daran hält, um andere zu verunsiche­rn. Dementspre­chend versuchen 53 Prozent der Berliner und 57 Prozent der Brandenbur­ger, öffentlich­e Verkehrsmi­ttel zu meiden.

Die Berliner Verkehrsbe­triebe (BVG) haben inzwischen die Desinfekti­on von Griffen und Flächen der Fahrzeuge an den Endhaltest­ellen eingestell­t. »Wir desinfizie­ren nur noch auf dem Betriebsho­f, zum Beispiel bei Werkstatta­ufenthalte­n«, bestätigt BVG-Sprecher Jannes Schwentu auf nd-Anfrage. Das Robert-Koch-Institut empfehle Flächendes­infektion nicht, da für die Verbreitun­g des Covid-19-Virus Aerosole verantwort­lich seien, so die Begründung. Die an das Fahrperson­al verteilten Reinigungs­tücher seien nicht desinfizie­rend, weil solche Substanzen »zu Allergien und Hautreizun­gen an den Händen führen und die Oberfläche­n angreifen« könnten.

Um die Attraktivi­tät des ÖPNV zu steigern, fordert der Berliner Fahrgastve­rband IGEB ein 399-Euro-Jahrestick­et für die Hauptstadt. Man habe in Wien nachgefrag­t, ob es dort zu Kündigunge­n von Jahreskart­en in signifikan­tem Ausmaß gekommen sei. »Fehlanzeig­e«, heißt es in einer Mitteilung vom Donnerstag. »Dieses Modell nutzen auch Menschen in systemrele­vanten Berufen, die häufig im Niedrigloh­nsektor arbeiten; und es ist auch tragfähig für die Zeit nach der Pandemie«, sind die Fahrgastve­rtreter überzeugt.

Susanne Henckel winkt ab: »Wir sitzen mit Bund und Ländern an einem weiteren Rettungssc­hirm. Weitere Tickets, die bezuschuss­t werden müssen, werden wir in diesem Jahr nicht einführen können.«

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So menschenle­er wie im April 2020 sind Berliner U-Bahnhöfe nicht mehr – die Einnahmena­usfälle wachsen aber.

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