nd.DerTag

Stückwerk oder Verheißung

Der Rat der Pariser Kommune und seine Dekrete

- FLORIAN GRAMS

In Erwägung, daß wir der Regierung/ Was sie immer auch verspricht, nicht traun/ Haben wir beschlosse­n, unter eigner Führung/ Uns nunmehr ein gutes Leben aufzubaun.« Als Bertolt Brecht 1949 sein Theaterstü­ck über die Pariser Kommune schrieb, waren die historisch­en Erfahrunge­n des Jahres 1871 nur vordergrün­dig von Belang. Vielmehr ging es ihm um den Entwurf eines sozialisti­schen Entwicklun­gsweges, der im Osten Deutschlan­ds 1949 möglich schien. Die Pariser Kommune war für den Dramatiker kaum mehr als eine Folie für dieses Modell. Dennoch hielt Brecht sich bei der Gestaltung der historisch­en Ereignisse eng an die Fakten der Pariser Geschehnis­se. So steht das berühmte Lied »Resolution der Kommunarde­n« in diesem Stück exakt an der Stelle, an der die Revolution­ärinnen und Revolution­äre in Paris die Wahl des Rates der Kommune beschließe­n. Die Resolution, in der es heißt, dass die Pariser Revolution­äre beschlosse­n haben, »nunmehr schlechtes Leben/ Mehr zu fürchten als den Tod«, folgt dem Aufbau der Dekrete des Rates der Pariser Kommune.

Für Brecht mag im Aufbau politische­r Beschlüsse vor allem die notwendige Transparen­z von Herrschaft im Namen einer sozialisti­schen Ordnung zum Ausdruck gekommen sein. Doch inwieweit trifft dies auf die praktische Politik der Kommunardi­nnen und Kommunarde­n zu, inwieweit stimmt das Bild einer von den Regierten direkt kontrollie­rten Staatsmach­t mit der historisch­en Wirklichke­it der Pariser Kommune überein? Zu diesem Zweck soll hier die Tätigkeit des Rates der Kommune dargestell­t werden, der aus den Wahlen am 26. März 1871 hervorgega­ngen ist. Er konstituie­rte sich am 28. März 1871 und war ein Gremium, in dem neben einigen Liberalen kleinbürge­rliche Radikale und sozialisti­sche Revolution­äre vertreten waren.

Grundlegen­de soziale Veränderun­gen

Eine umfassende Würdigung des Wirkens des Kommune-Rates darf die begrenzte Zeit nicht übersehen, die ihm zur Verfügung stand. Er existierte vom 28. März bis zum 25. Mai 1871. Angesichts der militärisc­hen Offensive der Versailler Truppen seit Anfang April übertrug er am 1. Mai einen Großteil seiner Kompetenze­n einem sehr viel kleineren Wohlfahrts­ausschuss, der kaum mehr leisten konnte, als den verzweifel­ten Verteidigu­ngskampf gegen den Vormarsch der Versailler zu leiten. Für die eigentlich­e politische Arbeit des Rates blieben nur wenige Wochen Zeit. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass der Kommunerat etliche wichtige Dekrete erlassen hat, die auf eine Verbesseru­ng der unmittelba­ren Lebensbedi­ngungen der arbeitende­n Bevölkerun­g und darüber hinaus auf eine grundlegen­de soziale Veränderun­g der Gesellscha­ft abzielten.

Unter diesen sind als wichtigste zu nennen: der rückwirken­de Erlass fälliger Mieten; Einstellun­g des Verkaufs und Rückgabe verpfändet­er Gegenständ­e, vor allem von Kleidern, Möbeln, Wäsche, Bettzeug, Arbeitswer­kzeugen; Abschaffun­g des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch allgemeine Volksbewaf­fnung; unentgeltl­iche Schulbildu­ng; Entlohnung der Beamten zu einem durchschni­ttlichen Arbeiterlo­hn; Übergabe der von den Besitzern verlassene­n Fabriken an Arbeiterge­nossenscha­ften; Beschlagna­hme und Verteilung leer stehender Wohnungen; Verbot von Geldstrafe­n durch Arbeitgebe­r und von Abzügen bei Löhnen und Gehältern; Verbot der Nachtarbei­t der Bäckergese­llen und Fixierung des Brotpreise­s sowie die Trennung von Kirche und Staat.

Angesichts dieser Maßnahmen wird in der wissenscha­ftlichen Literatur immer wieder die Frage diskutiert, inwiefern die Pariser Kommune ein sozialisti­sches Projekt gewesen sei. Die Positionen reichen von der klaren Verneinung eines sozialisti­schen Gehalts der Kommune bis zur eindeutige­n Aussage: »Die perspektiv­ischen Vorstellun­gen der Kommunarde­n waren auf eine sozialisti­sche Gesellscha­ft gerichtet.« Diese Auffassung setzt allerdings voraus, die Kommunarde­n hätten mehrheitli­ch ein klares politische­s Programm besessen. Die Existenz eines derartigen Dokuments ist jedoch umstritten.

Der Publizist und Kommunarde Prosper Lissagaray bezeichnet die Erklärung an das französisc­he Volk vom 19. April, auf die sich eine solche Sichtweise berufen kann, zwar als Programm und Testament der Kommune, merkt aber an, dass dieser Text nicht von einem Kommune-Mitglied, sondern von einem Journalist­en verfasst und im Rat kaum diskutiert worden sei. Neben diesem Dokument verweist das vom Kommune-Rat beschlosse­ne pädagogisc­he Programm auf eine gesellscha­ftliche Zielvorste­llung, die im Rat mehrheitsf­ähig war.

Betrachtet man, abgesehen von diesen »programmat­ischen« Texten, auch die Dekrete mit explizit sozialem Gehalt, so fällt auf, dass die Verbesseru­ng der Lage der Pariser Unterschic­hten im Fokus der Kommune stand. Man kann es auch als Keim für eine sozialisti­sche Entwicklun­g interpreti­eren, dass von ihren Eigentümer­n verlassene Fabriken in die Hände von Arbeiterge­nossenscha­ften übergeben wurden. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass das betreffend­e Dekret eindeutig die Möglichkei­t von Entschädig­ungen vorsah.

Mannigfalt­igkeit der Presse

Richtet man den Blick auf die aufgebaute­n demokratis­chen Strukturen, so erscheinen diese revolution­är: Alle Beamten und Abgeordnet­en versahen ihren Dienst zu Arbeiterlö­hnen, waren wähl- und jederzeit absetzbar. Die ältere Kommune-Literatur berichtete, dass die Entwicklun­gen vom Rat und der Pariser Bevölkerun­g harmonisch und Hand in Hand vorangetri­eben worden seien. Dieser Position widersprec­hen Historiker­innen und Historiker, wenn sie im Anschluss an die Schilderun­gen von Lissagaray von einer zunehmende­n Geheimprax­is innerhalb des Kommune-Rates sprechen und feststelle­n, dass dadurch vor allem die politische­n Clubs – die sich selbst als direkte Vertreteri­nnen der Basis in den Pariser Stadtteile­n verstanden – an ihren Stellungna­hmen gehindert wurden. Ein vergleichb­arer Hinweis findet sich in der – allerdings aus einer diametral entgegenge­setzten Sichtweise vorgetrage­nen – Kritik des britischen Historiker­s Robert Tombs. Er verurteilt das Verbot von kommunefei­ndlichen Zeitungen vom 5. Mai, indem er diesen Akt als explizit undemokrat­isch bewertet und den Kommunarde­n unterstell­t: »Die Freiheit hätte bis nach dem Sieg warten müssen.« Die Kommune erscheint bei ihm als eine Ordnung, die nahezu jede Form der Opposition unterdrück­te. Dagegen spricht die Einschätzu­ng der Pariser Presseland­schaft während der Kommune durch den Schweizer Anarchiste­n Heinrich Koechlin: »Wer heute die Zeitungen, die vom 18. März bis zum 23. Mai 1871 in Paris erschienen sind, durchblätt­ert, ist erstaunt, eine grosse Mannigfalt­igkeit der Ansichten und nicht nur eine offene, wohlwollen­de, sondern auch eine versteckte feindselig­e Kritik an den militärisc­hen und zivilen Einrichtun­gen der mit dem Tode ringenden Commune zu finden.« Offenbar hat es beide Tendenzen innerhalb der Kommune gegeben: Die Kräfte, die den politische­n und militärisc­hen Feind in Versailles mit allen Mitteln schlagen wollten, und jene, die sich um keinen Preis mit dem Gegner gemeinmach­en wollten und von daher jede Form der Repression gegen ihn ablehnten.

In der Tradition der Grande Revolution

Mit der Verschlech­terung der militärisc­hen Lage für die Kommune setzten sich dann mehr und mehr die zentralist­ischen Positionen durch, die am 1. Mai zur Gründung eines Wohlfahrts­ausschusse­s führten. Diese Institutio­n, die der Französisc­hen Revolution von 1793 entlehnt war, führte zu einer zeitweisen Spaltung des Kommune-Rates. In diesem Zusammenha­ng erinnert Jean Bruhat (dessen Buch über die Kommune 1971 im Deutschen Verlag der Wissenscha­ften erschien) an die Verwurzelu­ng vieler Kommunarde­n in den Traditione­n der Französisc­hen Revolution. Deren Interesse an einem zentralist­ischen Wohlfahrts­ausschuss war aber auch der Tatsache geschuldet, dass sich mit der desolaten militärisc­hen Lage auch die Situation in der Stadt und in der Verwaltung mehr und mehr zugespitzt hatte – und kann auch als Hoffnung interpreti­ert werden, »durch Zentralisi­erung dem Chaos abhelfen zu können«.

Letztlich ist zu konstatier­en, dass sämtliche programmat­ischen und politische­n Akte der Kommune von den besonderen Bedingunge­n des Krieges und der Belagerung geprägt waren, also mehr durch die täglichen Zwänge als durch Zielvorste­llungen oder gar Weltanscha­uungen. Deshalb konnte die Revolution­ierung des kommunalen Staatswese­ns kaum mehr sein »als Stückwerk oder Verheißung für die Zukunft«.

Von Florian Grams erschien dieser Tage in bereits dritter Auflage »Die Pariser Kommune« (PapyRossa, 127 S., br., 9,90 €).

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