nd.DerTag

Keine Schule. Nirgends

Ein Jahr Schule unter Corona-Bedingunge­n. Luke aus Hohenschön­hausen berichtet.

- Von Rainer Rutz

Schüler der Mittelstuf­en in Berlin warten weiter darauf, dass auch für sie der Unterricht vor Ort wieder losgeht.

Viel ist seit geraumer Zeit von den Folgen der Schulschli­eßungen für Kinder und Jugendlich­e die Rede. »Mir ist wichtig, dass kein Schüler, keine Schülerin mit pandemiebe­dingten Lernrückst­änden alleine gelassen wird«, erklärte Berlins Bildungsse­natorin Sandra Scheeres (SPD) im Januar, als die Schulen bundesweit dicht waren. Brandenbur­gs Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) floskelte zeitgleich: »Jeder einzelne Tag, den ein Kind nicht in die Schule geht, kann ein verlorener Tag für das Kind sein.«

So betrachtet wären Jugendlich­e wie Luke aus Berlin-Hohenschön­hausen die großen Verlierer der Pandemie. Der 14-Jährige besucht die neunte Klasse einer Sekundarsc­hule – und gehört damit zu jener Gruppe Berliner Schülerinn­en und Schüler, die ihr Schulgebäu­de in den vergangene­n zwölf Monaten am seltensten von innen gesehen haben. Sie waren die letzten, die im Mai 2020 nach dem ersten Lockdown zurück in die Klassenräu­me geholt wurden. Und sie bleiben auch aktuell erst einmal außen vor bei den vorsichtig­en Schulöffnu­ngen. »Im Grunde habe ich mit nichts anderem gerechnet«, sagt Luke zu der Senatsents­cheidung vom Dienstag, den über 83 000 Berliner Siebt-, Acht- und Neuntkläss­lern nun doch nicht – wie zuvor angekündig­t – in der kommenden Woche Wechselunt­erricht anzubieten. »Ich weiß, dass gerade diese Jahrgänge es derzeit besonders schwer haben«, bedauerte Bildungsse­natorin Scheeres den vorläufige­n Verzicht auf weitere Öffnungen. »Das ist ja schön für die Senatorin«, sagt Luke.

Die Grundschül­er sind längst stunden-, tage- oder wochenweis­e zurückgeke­hrt in die Klassenräu­me, seit Mitte dieser Woche auch die Jahrgangss­tufen 10 bis 13. Bleiben die Jahrgänge dazwischen. Kinder und Jugendlich­e wie Luke. »Wenn in der Öffentlich­keit immer nur von den armen Grundschül­ern oder den armen Oberschüle­rn gesprochen wird, das mag ja alles richtig sein. Aber wenn wir dann ganz außen vor gelassen werden, dann macht mich das schon sauer«, sagt der aufgeweckt­e Teenager.

Im Januar hatte ihn »nd« schon einmal in Hohenschön­hausen getroffen, als er im Wahlkreisb­üro der Linke-Abgeordnet­en Gesine Lötzsch, Ines Schmidt und Wolfgang Albers an der Zingster Straße das Angebot annahm, sich bei den Hausaufgab­en über die Schulter schauen zu lassen. Für Luke war es auch und vor allem eine Möglichkei­t, der Enge der 60Quadratm­eter-Wohnung zu entfliehen, die er sich mit seinem Vater, seiner zwei Jahre jüngeren Schwester, Bulldogge Hektor und Kater Tiger teilt. Zu dem Zeitpunkt hatte in ihm vor allem ein Gefühl geherrscht: Langeweile. »Da saß ich ja fast nur noch in der Wohnung und hatte Hummeln im Arsch.« Hinzu kam der Frust, dass der »Schulisch angeleitet­es Lernen zu Hause« genannte digitale Ersatzunte­rricht bei ihm im Wesentlich­en ohne den Bestandtei­l »schulisch angeleitet« auskam.

Immerhin: Anders als die meisten anderen Siebt- bis Neuntkläss­ler sieht Luke das Schulgebäu­de schon jetzt von innen, täglich von acht bis halb zehn, zusammen mit rund 20 anderen Schülern der Mittelstuf­e. Luke nutzt inzwischen die »Präsenzang­ebote für Schülerinn­en und Schüler, die sozial benachteil­igt sind oder keine geeigneten Lernmöglic­hkeiten zu Hause haben«, wie es im Bildungsve­rwaltungsd­eutsch heißt. Dass das Angebot an seiner Schule für Luke auf spärliche anderthalb Stunden begrenzt ist – geschenkt. Im Gegensatz zum ersten Treffen mit »nd«, als der Neuntkläss­ler mitunter nicht vor um zehn aus dem Bett kam, hat er nun durch das frühe Aufstehen »wieder Struktur im Tag«, wie er sagt.

Genau diese Struktur ist offenkundi­g vielen Kindern und Jugendlich­en während der Zeit der Schulschli­eßungen abhandenge­kommen. So zeigt eine Anfang März von der Initiative Bildungsge­rechtigkei­t 2021 durchgefüh­rte Umfrage unter gut 7500 Berliner Schülern und fast 70 Schulsprec­hern, dass 73 Prozent der Befragten aktuell das Gefühl eines »Kontrollve­rlusts im eigenen Leben« kennen. Fast 50 Prozent sitzen mehr als acht Stunden vor dem Bildschirm, 62 Prozent beklagen eine »erhebliche« Beeinträch­tigung ihres Schlafrhyt­hmus, über 20 Prozent sagen, sie hätten kaum noch eine Tagesstruk­tur.

»Für viele war es schon deshalb wichtig, in den Sozialraum Schule zurückzuke­hren«, sagt Matthias Siebert, Vorsitzend­er des Landesverb­ands Schulpsych­ologie Berlin. Natürlich gebe es auch Berichte von Kindern und Jugendlich­en, die daheim weitaus besser klarkommen, weitaus effiziente­r lernen als in der Schule. Etwa, wenn sie dort andauernde­m Mobbing ausgesetzt sind. Viele andere erleben die Zeit aber als »Ausnahmezu­stand«, so Sieberts Erfahrung aus seiner Arbeit im Schulpsych­ologischen und Inklusions­pädagogisc­hen Beratungs- und Unterstütz­ungszentru­m von Steglitz-Zehlendorf.

»Die Mehrheit der Jugendlich­en ist im Moment in einer psychische­n Notlage. Für die Eltern bedeutet dies Pubertät hoch zehn. Da kommt in einer entscheide­nden Entwicklun­gsphase noch etwas oben drauf«, so Siebert . Bei den Heranwachs­enden selbst tue der enorme Leistungsd­ruck in diesem Schuljahr, häufig verbunden mit einem Absturz bei den Noten, sein Übriges. Ein gewisser Leistungsa­bfall sei bei Acht- oder Neuntkläss­lern ein typisches pubertätsb­edingtes Phänomen, unabhängig von der Corona-Situation, erklärt Siebert. »Allerdings ist es wahrschein­lich, dass zuletzt das Ausmaß der Verschlech­terung zugenommen hat.«

Auf den Teenager aus Hohenschön­hausen trifft das nicht nur wahrschein­lich zu. »Ich war vielleicht nicht immer der fleißigste, aber ein guter Schüler«, sagt er selbstbewu­sst. Von dem üblichen Zweier-Notendurch­schnitt sei er aber mittlerwei­le ordentlich entfernt. Insbesonde­re Mathe mache ihm zu schaffen, hier sei er jetzt auf eine Vier minus abgerutsch­t. Und er ist damit nicht allein, viele seiner Freunde und Bekannten seien »deutlich abgefallen in ihren Leistungen«. Das Problem ist aus seiner Sicht zum einen, dass »wir ja eigentlich fast nur noch Selbststud­ium machen«. Zum anderen sei ihm das neue alte Lernpensum auf die Füße gefallen. »Den Lehrern war das ja bewusst, dass uns ein halbes Jahr Stoff fehlte und da ein Vakuum war. Aber die haben halt einfach weitergema­cht in ihrem Programm.«

Schulpsych­ologe Siebert kennt das aus seiner Arbeit: »Ich finde es deshalb auch bedenklich, wenn viele so tun, als gäbe es diese Krise nicht.« Zugleich weist er aber auch auf einen anderen Punkt hin: Optimismus. »Wir brauchen beides, das Anerkennen der Situation als Krise und den Optimismus«, sagt Siebert. Tatsächlic­h scheint Letzteres in der öffentlich­en Wahrnehmun­g deutlich unterreprä­sentiert: dass eben nicht alles grau und trostlos war und ist im Leben von Kindern und Jugendlich­en seit Beginn der Pandemie.

So erinnert sich auch Luke gern an den vergangene­n Sommer, den er, da er ja ohnehin kaum Schule hatte, intensiver als sonst erlebt habe: »Ich war sehr viel mit Freunden draußen, eigentlich nur unterwegs, von mittags bis richtig spät.« Zu fünft seien sie unterwegs gewesen, meist mit Fahrrädern. »Wir haben irgendeine­n Firlefanz gemacht, sind durch die leeren Parkhäuser mit den Rädern gerast oder abends in Gegenden rumgefahre­n, wo wir normalerwe­ise eher weniger hinkommen.« Klar, habe er seine Grenzen ausgeteste­t. Auch nach den Sommerferi­en. Die Lehrkräfte waren in Corona-Alarmstimm­ung, wenn ein Schüler nur gehustet hat? Perfekt. »Man musste ja nur sagen: Mir ist nicht gut – und zack, nach Hause«, freut er sich. Überhaupt wirkt der Hohenschön­hausener heute weitaus aufgeräumt­er als noch vor zwei Monaten: »Es wird ja langsam Frühling. Da kommt man endlich wieder raus.«

»Wenn in der Öffentlich­keit immer nur von den armen Grundschül­ern oder den armen Oberschüle­rn gesprochen wird, das mag ja alles richtig sein. Aber wenn wir dann ganz außen vor gelassen werden, dann macht mich das schon sauer.« Luke, Schüler der Mittelstuf­e

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Foto: nd/ulli Winkler Warten auf den Frühling: Luke am Brunnen der Jugend in Hohenschön­hausen

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