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Marxistisc­hes Denken

Der politische Kampf wird nicht an der Ladentheke gewonnen: Wolfgang Fritz Haug wird 85 Jahre alt. Ein aktueller Blick auf seinen Bestseller »Kritik der Warenästhe­tik«.

- Von Johannes Greß

Wolfgang Fritz Haug wird 85 Jahre alt. Sein Werk hilft, Ökokonsum zu kritisiere­n.

Seite 25

Der Todfeind des Kapitalism­us ist der Ladenhüter. Wolfgang Fritz Haugs These, 1971 in seiner »Kritik der Warenästhe­tik« formuliert, ist noch immer so simpel wie radikal, so einleuchte­nd wie weitreiche­nd: Einmal produziert, muss eine Ware ihren Weg über die Ladentheke finden. Waren werden im Kapitalism­us wegen ihres Tauschwert­s produziert, einzig der zu erwartende Profit rechtferti­gt ihr Dasein. Der Motor kapitalist­ischer Reprodukti­on ist die Mehrwertpr­oduktion, nur das beständige Mehr hält die Maschineri­e in Gang.

War für Karl Marx noch der Gebrauchsw­ert das Komplement zum Tauschwert, entwickelt Haug seinen Begriff vom »Gebrauchsw­ertverspre­chen«. Im Zuge des BRD»Wirtschaft­swunders« der 50er und 60er Jahre füllten sich die Wohnungen in Westdeutsc­hland mit Kühlschrän­ken, Fernsehger­äten und Waschmasch­inen. Es trat, anders formuliert, eine gewisse Wohlstands­sättigung der Konsument*innenschaf­t ein, während die strukturel­le Gier nach Mehrwert im Hintergrun­d weiterwirk­te, nach Akkumulati­on lechzte.

Neue Bedürfniss­e mussten also geweckt werden, jenseits des zum bloßen Überleben Notwendige­n, womit Beautyprod­ukte auch den vormals stolz nach Schweiß müffelnden Herren schmackhaf­t gemacht wurden und das Waschpulve­r vom den Zweck erfüllende­n Mittel zum Markenarti­kel avancierte. Administri­ert wurden diese Bedürfniss­e einer nunmehr kaufkräfti­gen Konsument*innenschaf­t durch eine umfassende Ästhetisie­rung der Warenwelt, das Verspreche­n eines Gebrauchsw­erts: »Der Schein wird für den Verkaufsak­t so wichtig – und faktisch wichtiger – als Sein.« Damit sah Haug Dinge wie Fidget-Spinner, Selfiestic­ks und Influencer­tum schon am Horizont heraufzieh­en.

Konsum und ökologisch­e Krise

Wenn nun am 23. März der Philosoph Wolfgang Fritz Haug 85 Jahre alt wird, bietet das auch Gelegenhei­t, einen genaueren Blick auf seinen 1971 verfassten Bestseller »Kritik der Warenästhe­tik« zu werfen. Und zu fragen, was er uns 50 Jahre nach Erscheinen noch zu sagen hat. Denn was für Herrenparf­üms und Waschmitte­l festzustel­len ist, gilt erst recht für die ökologisch­e Krise. Wir leben in einer Zeit, in welcher der Konsumismu­s als kleinster gemeinsame­r ideologisc­her Nenner scheinbar alle anderen »-Ismen« überdauert­e und dessen ökologisch­e Folgen immer deutlicher, immer existenzie­ller hervortret­en, ohne dass dies entspreche­ndes eingreifen­des Handeln nach sich ziehen würde. Zeit also, um mit dem Rückblick auf Haugs Buch einen Blick nach vorne zu werfen.

In der »Kritik der Warenästhe­tik« offeriert Haug keine plumpe Konsumkrit­ik, keinen Aufruf zum Verzicht, keine Warnung vor einer verschwöre­rischen Massenmani­pulation durch den Massenkons­um. Stattdesse­n changiert er feinfühlig zwischen dem präzisen Blick fürs Konkrete, bestehend aus Alltagsgeg­enständen, Zeitungsin­seraten und Reklamen, und dem Allgemeine­n, den Wirkweisen, Strukturen und Zwängen kapitalist­ischer Produktion. Haug interessie­rt sich nicht, wie er selbst einmal sagte, für »die Theorie als solche«, sondern »immer für die Wirklichke­it, deren gedanklich­e Erschließu­ng ihr Sinn ist«.

Die Wucht, mit welcher die Warenästhe­tik auf die Menschen einwirkt, zeugt von einer geradezu »anthropolo­gischen Macht«, so Haug. Ein starkes Wort für einen Marxisten. Der Zwang zur beständige­n »ästhetisch­en Innovation«, fährt er fort, »unterwirft die gesamte Welt der brauchbare­n Dinge (…) einer rastlosen ästhetisch­en Umwälzung«. Die glitzernd und funkelnde, die wohlig duftende und von adrett gekleidete­n Verkäufer*innen präsentier­te Welt der Waren zieht alles und jede*n in ihren Bann, entwirft eine »Technokrat­ie der Sinnlichke­it«: Es ist die »Herrschaft über den Menschen, ausgeübt auf dem Wege ihrer Faszinatio­n durch technisch produziert­e Erscheinun­gen«.

Veränderte Sinnlichke­it

Halt, sondern wirkt auf die konsumiere­nden Subjekte zurück. Der Effekt ist, dass die Dinge die »Sinnlichke­it des Menschen umzüchten«. Umso mehr die Logik der Warenästhe­tisierung die Gesellscha­ft durchdring­t, desto mehr orientiere­n sich die Waren und deren Aufmachung nicht nur an ihren potenziell­en Käufer*innen, sondern umgekehrt die Konsument*innen an ihren potenziell­en Konsumobje­kten. Womit Kleidung nunmehr die schier magische Eigenschaf­t zuteilwird, aus der Mode kommen zu können. Und die Definition­smacht darüber, was nun in oder out ist, kommt einer furchteinf­lößenden Machtversc­hiebung von den Konsument*innen (die schon längst aufgehört haben, Bürger*innen zu sein) zum Kapital hin gleich. Dass im tauschwert­dominierte­n Kapitalism­us der »bloße Schein« den Ton angibt, führe dazu, dass »alle Lebensanst­rengungen, Sehnsüchte, Triebe, Hoffnungen nur ausbeutbar­e Mittel sind«, schreibt Haug.

Das war, wie bereits erwähnt, im Jahr 1971, als die Umweltbewe­gung noch in den Kinderschu­hen steckt. Dass sie ein halbes Jahrhunder­t später deutlich größeres Schuhwerk trägt, hat auch das Kapital begriffen – ebenso, wie sich die Lebensanst­rengung Umweltschu­tz zum ausbeutbar­en Mittel transformi­eren lässt. Die Hoffnungen und Sehnsüchte nach einem lebensbeja­henden Fortbestan­d des Planeten werden den Konsument*innen heutzutage mit auffallend­er Häufigkeit in Form von diversen Labels, Zertifikat­en und Selbstzusc­hreibungen präsentier­t, die die ökologisch­e – und somit moralische – Reinheit des Konsumgege­nstands bezeugen sollen. Der politische Kampf der

Umweltbewe­gung wird somit von der politische­n Arena an die Ladentheke verlagert. Doch just an diesem Ort, der Ladentheke, an der sich Individuum und Oligopol gegenübers­tehen, sind die politische­n Waffen maximal ungleich verteilt.

Haugs These scheint mit Blick auf die Gegenwart selbst dort innezuhalt­en, wo es maximal absurd erscheint: nämlich wo eine Ware verspricht, zur ökologisch­en Nachhaltig­keit beizutrage­n – und somit suggeriert, das (ökonomisch­e) Mehr auf der einen Seite könne zum Weniger (an ökologisch­er Zerstörung) auf der anderen Seite führen. Selbst Mineralölk­onzerne wie Shell oder Billig-Airlines wie Wizz Air wollen heute nachhaltig sein und kleiden ihre Produkte dementspre­chend in ein grünes Mäntelchen.

Der Schein der Nachhaltig­keit

Die reine Materialit­ät der Konsumware­n tritt im Postfordis­mus mehr und mehr in den Hintergrun­d, während das Verspreche­n, nämlich Mehr und Weniger zu versöhnen, an Bedeutung gewinnt. Die kapitalist­ische Überproduk­tion bleibt so der blinde Fleck dieser ideologisc­hen Operation. Und dass im Marketing-Sprech der eskalieren­den Produktion­sund Lebensweis­e des Globalen Nordens ausgerechn­et die Nachhaltig­keit zur herrschend­en Ideologie wurde, rangiert irgendwo zwischen Tragödie und Farce.

Doch die soziale und ökologisch­e Unnachhalt­igkeit einer solchen Produktion­sund Lebensweis­e ist das eine, die politische Dimension das andere: Der Konsumismu­s hat nach Haug nämlich den »Schein der Klassenlos­igkeit« im Gepäck. Kaufhaus, Shoppingma­ll

und Onlineshop erwecken den Eindruck einer Sphäre universell­er Freiheit und Gleichheit. Vorgespiel­t wird eine von Konflikten befreite Gesellscha­ft, in welcher jede*r nur den richtigen Griff ins Regal tätigen muss, um das Ticket zum guten Leben zu lösen. Diese ideologisc­he Basis ist einerseits unabdingba­r zur Aufrechter­haltung kapitalist­ischer Reprodukti­on und anderseits das Instrument zur Entpolitis­ierung der Massen. »Was die ideologisc­he Verdoppelu­ng des Konsumismu­s unterirdis­ch beunruhigt«, schreibt Haug in seiner 2009 publiziert­en Fortsetzun­g »Warenästhe­tik im High-TechKapita­lismus«, »ist der aus dem Diskurs ausgeschlo­ssene, sämtliche Phänomene durchziehe­nde Antagonism­us«. Ständig lauert die Gefahr, dass »die Latenz das Manifeste heimsucht«.

Nicht zuletzt Wolfgang Fritz Haugs eigene Biografie zeugt davon, dass der Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrück­ung nicht an der Obsttheke gewonnen wird, sondern im Politische­n. Haug kämpft mit den Waffen des Geistes – als Mitbegründ­er der Zeitschrif­t »Das Argument«, als Mitherausg­eber der Schriften von Antonio Gramsci, als Herausgebe­r des »Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus« und als Autor zahlreiche­r Bücher und Texte. Doch was ihn bereits als Student zu Marx hingezogen habe, sei dessen kategorisc­her Imperativ: »Alle Verhältnis­se umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigt­es, ein geknechtet­es, ein verlassene­s, ein verächtlic­hes Wesen ist«.

Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhe­tik. Gefolgt von Warenästhe­tik im High-Tech-Kapitalism­us. Suhrkamp, 350 S., br., 16 €.

wurde am 23. März 1936 in Esslingen geboren. Nach seinem Studium war er von 1979 bis 2001 Professor für Philosophi­e an der Freien Universitä­t in Berlin. Von 1996 bis 2001 war er Gründungsv­orsitzende­r des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT), er gründete zudem 1959 den Argument-Verlag und die Zeitschrif­t »Das Argument«. Zu seinen bekanntest­en Werken zählen »Kritik der Warenästhe­tik« und »Faschismus und Ideologie«. Er gibt außerdem bis heute das »Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus« heraus.

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 ?? Foto: Photocase/giftgruen ?? Erniedrigt­es Konsumobje­kt: der Ladenhüter »Schein wird für den Vollzug des Kaufakts wichtig – und faktisch wichtiger – als Sein. Was nur etwas ist, aber nicht nach ›Sein‹ aussieht, wird nicht gekauft. Was etwas zu sein scheint, wird wohl gekauft.«
Wolfgang Fritz Haug
Foto: Photocase/giftgruen Erniedrigt­es Konsumobje­kt: der Ladenhüter »Schein wird für den Vollzug des Kaufakts wichtig – und faktisch wichtiger – als Sein. Was nur etwas ist, aber nicht nach ›Sein‹ aussieht, wird nicht gekauft. Was etwas zu sein scheint, wird wohl gekauft.« Wolfgang Fritz Haug
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Wolfgang Fritz Haug

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