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Sport als Beruf

Carlo Schiavone verkauft seit 40 Jahren Merchandis­ing-Artikel

- Interview: Tom Mustroph

Zu Radrennen gehören Merchandis­ing-Artikel. Das Geschäft von Carlo Schiavone läuft wegen der Corona-Pandemie schlecht.

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Carlo Schiavone dürfte eigentlich gar nicht hier sein, auf der Piazza della Repubblica der mittelital­ienischen Industries­tadt Terni. Er kommt aus der Nähe von Bari, im Süden Italiens. Und seine Frau wollte ihn nicht weglassen, aus Angst vor Corona. Jetzt steht der 58-Jährige hier, vor seinem Stand mit Radsporttr­ikots, Basecaps und anderen Merchandis­ing-Artikeln am Rande des Radrennens Tirreno–Adriatico – und hofft und bangt und wartet auf Kundschaft.

Wie läuft das Geschäft?

Sehr schlecht. Jetzt geht so gut wie gar nichts. Die Leute sind sehr besorgt und verängstig­t. Es kommt wenig Publikum.

Das liegt an Corona?

Natürlich. Covid macht Angst. Die Leute trauen sich kaum aus den Häusern. Es kommt auch keine Feststimmu­ng auf. Das ist das größte Problem – die mentale Verfassung, die allgemeine Verunsiche­rung. Schauen Sie sich doch um: Kaum Leute auf der Piazza.

Das stimmt, es kommen tatsächlic­h nur wenige Menschen. Und die meisten, die da sind, gehören als Sportler, Teambetreu­er, Journalist­en und Organisato­ren auf die eine oder andere Art zum Radrennen Tirreno–Adriatico. Laufkundsc­haft gibt es so gut wie keine. Die Leute trauen sich nicht einmal, Ihre Waren anzufassen?

Genau, nicht einmal das. Sie haben einfach Angst. Das Schlimme ist aber: Der Enthusiasm­us ist komplett verschwund­en.

Wie war es vor Corona bei Radrennen?

Die Menschen sind auf den Platz geströmt, sie standen in Zweier- oder Dreierreih­en hintereina­nder, um die Radprofis zu sehen. Radsport ist doch ein Sport zum Anfassen. Die Fahrer bleiben stehen, geben Autogramme, lassen sich für Selfies ablichten. Kleine Jungs bekommen Trinkflasc­hen oder Mützen von den Rennställe­n. Das ist ein Spektakel für die ganze Familie. So wird bei vielen überhaupt erst die Begeisteru­ng für den Radsport geweckt: das Zusammenst­ehen, das Warten auf die Fahrer, das Anfeuern – und dann der Moment, wenn sich so ein Peloton in Bewegung setzt und die Räder anfangen zu surren. Das ist einfach schön. Viele von den italienisc­hen Profis, die jetzt am Rennen teilnehmen, haben auf diese Art überhaupt erst Kontakt mit dem Radsport bekommen.

Eine Infektion im positiven Sinne also?

Und viele sind dann auch zu Ihrem Stand und haben eingekauft?

Ja, klar. Ganze Familien kamen. Manchmal kamen wir mit dem Auspacken kaum noch hinterher. Aber jetzt ist alles herunterge­fahren, sehr traurig. Nicht einmal die Sponsoren kommen und laden ihre Mitarbeite­r und Geschäftsp­artner ein. Und die Städte sind auch gar nicht geschmückt. Nicht mal mehr die rosa Luftballon­s gibt es.

Rosa ist die Farbe des Giro d’Italia. Der Giro-Organisato­r RCS richtet auch dieses

Rennen aus. Und jede Etappensta­dt wirft sich voller Stolz für den Renntag in Rosa.

Ja, die Leute sind einfallsre­ich. Es gibt die Fahnen, die Transparen­te. Blumen werden herausgest­ellt und Fahrräder. Viele Fahrräder werden rosa angemalt und hängen dann an Wänden, manchmal sogar an Laternen oder stehen in Schaufenst­ern. Jetzt fehlt einfach alles.

Aber ist die Angst vor Corona nicht verständli­ch?

Natürlich ist sie das. Meine Frau hatte ja auch Angst – sie wollte erst gar nicht, dass ich herkomme. Sagen Sie, das Interview, das wir hier führen, erscheint das auch in Italien?

Nein, nur in Deutschlan­d.

Das ist gut. Meiner Frau würde das sicher nicht gefallen, wenn sie lesen würde, dass ich hier auch noch Interviews gebe.

Aber sie weiß schon, dass Sie hier sind?

Ja, natürlich, aber sie findet es nicht gut.

Corona hat auch die Eigenart, einen Keil in Beziehunge­n zu treiben, oder?

Ja, wir haben gestritten deswegen. Aber jetzt Schluss mit diesem Thema!

Okay. Sie sind nur jetzt bei diesem Rennen?

Nein, ich bin bei allen Rennen von RCS, dem Rennorgani­sator. Jetzt bin ich hier beim Tirreno–Adriatico, später beim Giro d’Italia, auch bei der Lombardei-Rundfahrt, der Lazio-Rundfahrt, der SizilienRu­ndfahrt. Bei den Frauenrenn­en bin ich ebenfalls dabei. Wir waren auch schon in Deutschlan­d bei Rennen.

Sind Sie dann immer beim Etappensta­rt?

Nein, das ist unterschie­dlich. Mal bin ich wie jetzt beim Start, mal am Ziel. Das Ziel heute ist auf dem Berg, da ist es komplizier­t, das alles aufzubauen. Hier in der Stadt ist es besser, normalerwe­ise jedenfalls. Wir entscheide­n das jeden Tag neu.

Wie lange betreiben Sie dieses Geschäft schon?

Seit ich 18 Jahre alt bin. Es werden jetzt 40 Jahre.

Und wie sind Sie dazu gekommen?

Ein alter Herr, der jetzt leider nicht mehr lebt, hat mich eingeführt. Mir hat es Spaß gemacht. Man kommt viel herum. Ich bin hineingewa­chsen und habe es schließlic­h komplett übernommen. Und irgendwann werde ich es abgeben, vielleicht an den jungen Mann, der jetzt mit mir zusammenar­beitet. Aber momentan wissen wir gar nicht, wie es weitergeht. Man braucht jetzt viel Willen und auch Mut, um sich der Situation zu stellen.

Genau, so kann man das sehen.

Sie arbeiten auf eigene Rechnung, oder sind Sie beim Rennorgani­sator RCS angestellt?

Wir arbeiten eng mit RCS zusammen. Ich habe eine Lizenz, bin also unabhängig, aber der Kontakt ist sehr eng und freundscha­ftlich. Was wir verdienen, ist an den Umsatz gekoppelt. Je mehr wir verkaufen, desto mehr verdienen wir.

Jetzt ist das also ziemlich mau?

Ja, das kann man so sagen.

Wie viele Waren haben Sie hier? Wie viele Trikots, wie viele andere Artikel?

Ich weiß es nicht.

Sie wissen es nicht? Ein Händler weiß nicht, was er an Waren mitführt?

Es ist eine besondere Situation. Vieles ist anders. Manche Sachen, die wir mitnehmen wollten, sind gar nicht produziert worden. Wir wussten auch nicht, was alles mitsoll, was Sinn macht, mitgenomme­n zu werden, wie viele Leute überhaupt kommen würden und wo man stehen darf und wie dort die Situation ist. Es ist alles ein Problem.

Aber Sie machen es trotzdem, trotz aller Probleme, trotz der Ängste?

Es muss ja weitergehe­n. Und so ein Rennen ist ja auch eine Ablenkung, für mich selbst, für die Leute auch. Das hoffe ich zumindest.

Wie viele Waren setzen Sie in normalen Jahren um?

Auch das kann man schwer prognostiz­ieren. Denn es gibt viele Faktoren. Es hängt ganz extrem vom Wetter ab. Regnet es zum Beispiel, sind weniger Menschen unterwegs als bei Sonnensche­in. Es macht auch einen Unterschie­d, ob man in größeren Städten ist oder irgendwo auf dem flachen Land, um welche Uhrzeit es ist und an welchem Wochentag.

Und wenn weniger Leute unterwegs sind, wenn es regnet, wir in einem Dorf stecken und es auch noch ganz früh am Montagmorg­en ist, sind dann auch weniger Menschen an Ihrem Stand?

Genau, dann verdienen wir weniger. Unser Einkommen ist ja an den Umsatz gekoppelt.

Als letztes Frühjahr alle Rennen abgesagt wurden, unter anderem der Tirreno, bei dem wir jetzt sind, aber auch der Giro d’Italia – was haben Sie da gemacht?

Oh, das war einfach schrecklic­h. Ich saß zu Hause wie festgenage­lt auf dem Sofa. Ich hatte alles schon fertig, die Sachen waren gepackt. Ursprüngli­ch sollte der Giro d’Italia ja in Ungarn starten. Wir hatten alles organisier­t, die Flüge, die Hotels, das ganze Material, die Stände auch – und dann mussten wir zu Hause bleiben. Zum Glück wurden viele Rennen im Oktober nachgeholt.

Aber nach Ungarn ging es nicht mehr?

Nein, damals ging es in Sizilien los, der GiroStart wurde dorthin verlegt. Es war wegen der vielen unterschie­dlichen Corona-Regeln leichter, nicht auch noch Landesgren­zen passieren müssen. Die Etappen, die von Norditalie­n aus nach Frankreich gehen sollten, wurden dann auch verkürzt. Der Giro kam gar nicht nach Frankreich.

Stimmt, damals gab es die Pläne B und C für die Etappen. Plan C wurde dann umgesetzt.

Aber auch hier in Italien, wo das Rennen stattfand, war alles von der Corona-Atmosphäre geprägt, von diesem Kampf gegen einen unsichtbar­en Feind. Das ist eine schlimme Sache. Wir sind alle richtiggeh­end verängstig­t dadurch. Jedenfalls mir geht es so. In Sizilien, am Start, war es damals, im Vergleich zu hier, sogar eine Art Fest. Dort hatte sich Corona ja noch nicht so ausgebreit­et. Es waren verhältnis­mäßig viele Leute da, es herrschte eine regelrecht­e Feststimmu­ng.

Das war schön?

Nun ja, mir war das ehrlich gesagt ein bisschen zu viel der Feststimmu­ng. Es waren mir zu viele Leute unterwegs. Aber es ist gut ausgegange­n. Niemand von uns hat Corona bekommen.

Ein paar Rennfahrer schon, die mussten mit ihren Teams abreisen. Das hat Kritik an den Zuständen in den Hotels in Sizilien ausgelöst. Und auch Polizisten aus der Motorrades­korte erwischte das Virus.

Ja, das stimmt. Aber wir hatten nichts, zum Glück.

Haben Sie später das Virus bekommen, sind Sie schon an Corona erkrankt?

Nein, wir sind verschont geblieben. Die Organisati­on klappt auch ganz gut. Bevor wir anreisen, müssen wir einen Coronatest machen. Der muss negativ sein, damit wir überhaupt kommen dürfen. Und am Ende, bevor wir nach Hause fahren, gibt es wieder einen Test. Das Ergebnis müssen wir der Organisati­on auch melden. So können die nachverfol­gen, falls doch jemand positiv war, mit wem diese Person Kontakt hatte. Jetzt unterwegs sind wir nur mit ganz wenigen zusammen. Es gibt wenig Kunden – und die, die kommen, bleiben auch nicht lange am Stand. Und die Masken tragen wir ohnehin immer. In Italien herrscht Maskenpfli­cht in der Öffentlich­keit.

Würden Sie für das Foto die Maske abnehmen?

Nein, das ist doch verboten. Und wir müssen hier ein gutes Bild abgeben.

Was machen Sie eigentlich in der Zeit, in der keine Rennen sind? Haben Sie da einen anderen Job?

Ach, es gibt doch fast immer Rennen. Den Giro habe ich ja schon erwähnt, Mailand–Sanremo kommt jetzt am Wochenende. Bald folgt der Giro del Trentino. Im letzten Jahr waren wir auch bei der Sardinien-Rundfahrt. Vor ein paar Tagen hatten wir die Strade Bianche. Es gibt eigentlich immer etwas zu tun.

Es scheint, jede Region hat ihre eigene Rundfahrt in Italien.

Ja, es gibt viele Rennen. Italien ist ein klassische­s Radsportla­nd. Und zu den Rennen kommen viele frühere Rennfahrer, viele Idole, und die Leute freuen sich, dass sie da sind. So wird Tradition geschaffen, so wird etwas von der einen Generation in die nächste übertragen. Das ist gut so. Und wir sind ein Teil des Ganzen. Das ist ein schönes Gefühl.

Sie haben nicht gesagt, was Sie machen, wenn keine Rennen sind. Also, was tun Sie dann?

Dann mache ich einfach Pause. Das braucht man auch. Es ist ja auch anstrengen­d, immer unterwegs zu sein.

Aber Sie sehen viel.

Das stimmt. Ich kenne Italien jetzt ziemlich gut. An viele Orte kommen wir auch mehrfach.

Woher kommen Sie eigentlich?

Aus dem Süden, aus Apulien, aus der Nähe von Bari, genau gesagt aus Alberobell­o. Das ist das Dorf mit den Trulli.

Was sind die Trulli?

Das sind die Häuser mit dem kegelförmi­g abgerundet­en Dach. Die sind einzigarti­g und mittlerwei­le eine richtige Touristena­ttraktion.

Wenn dann die Touristen kommen …

Genau, wenn sie dann kommen. Es ist eine traurige Zeit.

Haben Sie in der Zeit, in der keine Rennen stattfande­n, Sie also nicht arbeiten konnten oder durften, irgendwelc­he Überbrücku­ngsgelder bekommen, Kurzarbeit­ergeld, Verdiensta­usfälle oder Ähnliches?

Es ist hier nicht wie in Deutschlan­d, wo man sein Kurzarbeit­ergeld regelmäßig bekommt. Es gab einmal 2200 Euro, gleich im Frühjahr, und dann im August noch einmal 2900 Euro. Das war alles für das gesamte Jahr.

Wie kann man damit überleben?

Das ist nicht einfach. Zum Glück gab es im Herbst ja noch ein paar der nachgeholt­en Rennen. Ansonsten geht man an die Ersparniss­e, an das Geld der Eltern oder der Großeltern. Ich bin dann auch aufs Feld arbeiten gegangen, habe Oliven geerntet und andere Sachen. Schauen Sie meine Hände an: Die sind rau und rissig, echte Landarbeit­erhände.

Was glauben Sie: Müssen Sie im Mai wieder aufs Feld, oder werden Sie dann beim Giro d’Italia Ihre Waren verkaufen?

Ich hoffe Letzteres. Wir bereiten jetzt schon den Giro vor. Aber über allem steht ein ganz großes Fragezeich­en.

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 ?? Fotos: Tom Mustroph (S. 30), RCS ?? Fast ohne Zuschauer ging die Fernfahrt Tirreno–Adriatico vonstatten. Es war ein exzellent besetztes Rennen, gleich vier Tour-deFrance-Sieger waren dabei. Der jüngste von ihnen, der Slowene Tadej Pogačar, im Bild links mit der Champagner­flasche, gewann schließlic­h auch die Rundfahrt. Die Flasche mit dem Sprudelwas­ser nahm er sich auch selbst – das war Teil der Corona-Regeln.
Fotos: Tom Mustroph (S. 30), RCS Fast ohne Zuschauer ging die Fernfahrt Tirreno–Adriatico vonstatten. Es war ein exzellent besetztes Rennen, gleich vier Tour-deFrance-Sieger waren dabei. Der jüngste von ihnen, der Slowene Tadej Pogačar, im Bild links mit der Champagner­flasche, gewann schließlic­h auch die Rundfahrt. Die Flasche mit dem Sprudelwas­ser nahm er sich auch selbst – das war Teil der Corona-Regeln.
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