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Härter lockern, bitte

Es gibt wieder mehr Corona-Infektione­n. Die Belastung für Familien, Beschäftig­e und Kinder steigt. Dabei gibt es Vorschläge für eine stärkere Entlastung

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Mit »Lockerunge­n« ist in der Pandemie normalerwe­ise gemeint, dass Geschäfte und Schulen, Kinos und Kneipen wieder öffnen. So sehr sich das viele wünschen, weil sie wieder Menschen treffen wollen oder das Gehalt brauchen – derzeit hieße das: mehr Kranke und mehr Druck. Etwa für Klinikpers­onal. Wie wäre es deshalb, den Druck zu lockern, unter dem Beschäftig­te und Schüler*innen stehen? Wir stellen Vorschläge vor – und haben etwa Zero-CovidVertr­eterinnen gefragt, wie es funktionie­ren soll, noch mehr Betriebe zu schließen. Und wann gibt es endlich für einen Großteil der Menschen hierzuland­e genug Impfstoff?

Am Montag treffen sich wieder Bund und Länder zum Gespräch. Was muss da beschlosse­n werden?

Schödel: »Zero Covid jetzt« natürlich. Mit weitreiche­nden Hilfsmaßna­hmen und dem Ziel, die Pandemie endlich zu beenden. Ich halte es auch für möglich, dass eine Null-Covid-Strategie den etablierte­n politische­n Diskurs erreicht. Dabei sind die Impfungen wichtig, da es mit fortschrei­tender Impfkampag­ne auch leichter wird, Inzidenzen zu senken. Impfen allein aber reicht nicht aus.

Müller: Die Mutationen des Virus und die bevorstehe­nde dritte Welle machen überdeutli­ch, was jetzt getan werden muss: Betriebe, Baustellen und Büros zumachen und finanziell­e Solidaritä­tsabgaben beschließe­n.

Nur haben nach über einem Jahr der Pandemie immer weniger Menschen die Nerven und auch die Kraft für einen strengen Lockdown. Müller: Es ist naheliegen­d, eine Mobilisier­ung zum aktuellen Zeitpunkt pessimisti­sch zu sehen. Aber letzten Endes bleibt nichts anderes übrig, als eine breite Öffentlich­keit zu mobilisier­en, die Politik von unten in ihre Verantwort­ung zu nehmen, und endlich das unnötige Sterben zu stoppen.

Schödel: Auch mit der aktuellen Corona-Politik sind Leute gezwungen, andauernd und ad hoc auf Lockdown-Maßnahmen zu reagieren. Wenn ein solidarisc­her Shutdown gut vermittelt und begleitet wird und mit sozialen Hilfeleist­ungen und Mitsprache einhergeht, kann es durchaus wieder eine größere Zustimmung geben, als es sie momentan für die staatlich verhängten Maßnahmen gibt. Die Idee hinter dem solidarisc­hen Shutdown ist gleichzeit­ig auch, Familien und Haushalte zu entlasten. Betriebe müssen zugemacht werden, begleitet von materielle­r Unterstütz­ung, damit der mehrfache Druck, der aktuell auf Menschen lastet, gemindert wird. Zugleich müssen diejenigen, die in gesellscha­ftlich notwendige­n Bereichen weiter arbeiten, zusätzlich unterstütz­t werden.

Als geschlecht­erpolitisc­he AG warnt ihr vor einem massiven Rollback in den Beziehunge­n der Geschlecht­er seit der Pandemie. Würde ein Shutdown das nicht verschlimm­ern? Blömers: Ein Shutdown hieße sicher zunächst eine Mehrbelast­ung für Frauen, etwa weil sich am meisten Frauen um die Kinderbetr­euung kümmern. Trotzdem bietet die Zero-Covid-Strategie hier eine Perspektiv­e. Nach dem Shutdown stehen Schulen und Kitas mit an vorderster Stelle bei den Öffnungen. Die müssen gemeinscha­ftlich beschlosse­n werden, weil auch Eltern, Lehrer*innen und Betreuer*innen in den Schulen und Kitas etwas dazu zu sagen haben, wie sicher sie sich in ihren Einrichtun­gen fühlen und wie die Sicherheit erhöht werden könnte. Die aktuelle Pandemiepo­litik beschließt relativ spontan Öffnungen und Schließung­en. Da können sich weder Eltern noch Arbeiter*innen auf irgendwas verlassen.

Schödel: Uns ist bewusst, dass die Forderung nach einem Shutdown sehr große Schwierigk­eiten birgt. Deswegen ist das solidarisc­he Element bei Zero Covid von Anfang an so wichtig. Zudem bezieht sich unsere Forderung ja zuallerers­t darauf, Betriebe konsequent­er zuzumachen. Dann kann im sozialen Bereich auch stärker flexibel agiert werden. Wobei natürlich die Unterbrech­ung von Infektions­ketten wichtig bleibt.

Müller: Umso länger wir keinen wirklichen Shutdown haben, desto mehr Ansteckung­en finden weiterhin täglich, stündlich, minütlich statt und desto länger wird diese Pandemie einfach andauern. Das kann man ja so ganz pauschal sagen.

Ist das Thema Geschlecht­erverhältn­is in der aktuellen Corona-Politik ausreichen­d mitgedacht? Müller: Nein, absolut nicht. Im Gegenteil, es wird eigentlich in der Öffentlich­keit negiert. Zum Beispiel werden queere Menschen nicht mitgedacht. Viele Leute, die nicht cis-geschlecht­lich sind, leben seit einem Jahr mit ihren Eltern, Verwandten oder anderen, die ihre Identität nicht anerkennen, ohne sicheren Rückzugsor­t. Aber auch alleinerzi­ehende Mütter – und von denen gibt es verdammt viele – trifft die Corona-Politik hart. Als sich nur zwei Leute aus zwei verschiede­nen Haushalten treffen durften, kam es zu so absurden Situatione­n, wie dass Mütter allein und isoliert zu Hause bleiben mussten, weil sie ihr Kind nicht hätten mitnehmen dürfen. So was wird in der Öffentlich­keit quasi nicht diskutiert. Das gilt generell für die Situation marginalis­ierter Menschen, auch für Menschen mit Behinderun­g oder migrantisi­erte Personen.

Schödel: Man könnte eigentlich erwarten, dass bei dem Ausbruch einer solch verheerend­en Krankheit, der Sorgeberei­ch ins Zentrum des gesellscha­ftlichen Diskurses und der Politik rücken würde – ein feministis­ches Anliegen, schon seit Jahrzehnte­n. Das ist aber nicht passiert. Weil unsere Gesellscha­ft die Sorge füreinande­r nicht in ihr Zentrum stellt, ist die Krise auch so verheerend. Deswegen sind aber auch umgekehrt viele Forderunge­n, die sich aus der aktuellen Lage ergeben, Forderunge­n des sowieso längst Wünschensw­erten: Bessere Arbeitsbed­ingungen, mehr Personal im Pflegebere­ich, also einen besseren Betreuungs­schlüssel, und Arbeitsbed­ingungen, die von den Beschäftig­ten mitgestalt­et werden.

Geht es bei euren Forderunge­n auch um längerfris­tige, über die Pandemie hinausgehe­nde Veränderun­gen?

Müller: Ich wurde in einem Panel mal gefragt, ob Zero Covid jetzt eine Art Trojanisch­es Pferd für den Kommunismu­s sei. Ich persönlich würde antworten, warum denn nicht, aber das ist natürlich nicht primär das Anliegen von Zero Covid. Allerdings sind alle Missstände, die jetzt an die Oberfläche kommen, welche, die aus kapitalist­ischen Verhältnis­sen stammen – und seit Jahrhunder­ten kritisiert werden. Die Ansätze, um diese Missstände zu behandeln, sind daher automatisc­h kapitalism­uskritisch­e. Aber unseren fünf Forderunge­n – gemeinsam runter auf null, niemand darf zurückgela­ssen werden, Ausbau der Gesundheit­sinfrastru­ktur, Impfstoffe für alle und solidarisc­he Finanzieru­ng – können sich auch andere Leute, auch neoliberal­e Eltern zum Beispiel, anschließe­n. Die Bekämpfung der Pandemie ist ja im Sinne aller.

Wie sollte so ein Ausbau der sozialen Gesundheit­sinfrastru­ktur konkret aussehen und finanziert werden?

Blömers: Dazu kann man erstmal unkonkrete Sachen sagen, die trotzdem wichtig sind, wie zum Beispiel, dass Sorgearbei­t in der aktuellen Gesellscha­ftsform absolut nicht anerkannt wird und immer hinten runterfäll­t. Darunter leiden im Grunde alle Menschen, nicht nur die, die in Krankenhäu­sern arbeiten oder sich um Kinder kümmern. Daraus ergibt sich die Forderung, dass Sorgearbei­ten nicht warenförmi­g zu organisier­en sind, weil sie sonst genau in dieser herunterge­sparten Schlaufe landen. Und konkret wäre zu sagen, dass in den Krankenhäu­sern die Pflegeberu­fe absolut unterbezah­lt sind und es natürlich eine höhere Bezahlung geben muss, bei gleichzeit­iger Reduzierun­g der Arbeit. Diese wahnsinnig hohen Arbeitszei­ten sind gefährlich für die Beschäftig­ten, aber auch die zu Pflegenden. Das gilt auch für die Arbeit in Altenund Pflegeheim­en, Kitas und Schulen.

Müller: Und auch für die private Reprodukti­onsarbeit müsste über eine finanziell­e Entlohnung nachgedach­t werden.

Trotz eines Shutdowns darf niemand zurückgela­ssen werden. Aber werden nicht gerade dann schnell Menschen und ihre Notlagen übersehen?

Schödel: Es muss proaktiv nach Problemen gesucht werden und auch vermittelt werden, dass es eine politische Öffentlich­keit für solche nur scheinbar privaten Notlagen gibt. Menschen dürfen eben nicht wie jetzt darauf zurückverw­iesen werden, individuel­l damit fertig zu werden. So entwickeln sie Schuldgefü­hle und sind zusätzlich psychisch belastet.

Viele Probleme sind sicher zunächst finanziell­e. Blömers: Klar, es braucht eine volle Lohnfortza­hlung, wenn Betriebe geschlosse­n werden. Finanziert durch Solidarabg­aben von Vermögende­n. Das Paradoxe an diesen Finanzieru­ngsfragen unserer Forderunge­n ist ja, dass der Lockdown, den wir jetzt gerade haben, auch nicht umsonst ist. Letztendli­ch würde ein solidarisc­her Shutdown – auch in bestehende­n Wirtschaft­sverhältni­ssen gedacht – nicht viel teurer werden.

Müller: Es muss auch mehr finanziell­e Hilfen geben, für all jene, die eh kein oder kaum Geld haben. Man sieht in anderen Ländern übrigens, dass es diesen Widerspruc­h zwischen strengen Maßnahmen und dem Erhalt der Wirtschaft gar nicht gibt: Es gibt Länder wie Neuseeland und Australien, die das Ziel von null Neuinfekti­onen erreicht haben und die wirtschaft­lich nicht viel schlechter dastehen als vorher. Aber dann heißt es, dass Neuseeland eben eine Insel sei oder China ein diktatoris­ch regierter Staat. Man sucht sich immer Ausreden, um bloß nicht sagen zu müssen, dass es auch ohne diesen Imperativ der Lohnarbeit geht. So was in Richtung bedingungs­loses Grundeinko­mmen könnte genau jetzt mal ausprobier­t werden.

Schödel: Zumal wichtig ist, dass finanziell­e Hilfen unbürokrat­isch zugänglich sind. Da wäre ein Pandemie-Grundeinko­mmen eine Lösung.

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Foto: imago images/Westend61
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 ?? Foto: iStockPhot­o/VitalyEdus­h ?? Hochfahren, runterfahr­en,
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Foto: iStockPhot­o/VitalyEdus­h Hochfahren, runterfahr­en, hochfahren, runterfahr­en: Bei der derzeitige­n Corona-Politik sind die Menschen gezwungen, ständig ad hoc auf LockdownMa­ßnahmen zu reagieren, so die Zero-Covid-Vertreteri­nnen. Bei einem »solidarisc­hen Shutdown« würden Familien und Beschäftig­te besser unterstütz­t. Viel teurer wäre das auch nicht, sagen sie.

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