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Standpunkt­e

Leo Fischer befürchtet, dass CDU, CSU und katholisch­e Kirche jeden Skandal überstehen

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Leo Fischer über CDU- und Kirchenska­ndale; Uwe Sattler über den Austritt von Fidesz aus der EVP; Lisa Ecke über die Büroschwem­me; Steffen Schmidt über den Astra-Impfstoff

Für viele Deutsche brechen derzeit gleich zwei Welten zusammen. Die Union und die katholisch­e Kirche, zwei tragende Säulen unseres Gemeinwese­ns, ächzen unter schweren Vorwürfen. In den Unionspart­eien haben sich anscheinen­d Abgeordnet­e an Geschäften mit FFP2-Masken oder aber durch Gefälligke­iten mal für die aserbaidsc­hanische, mal für die mazedonisc­he Regierung dumm und dusslig verdient. In der katholisch­en Kirche bringt das zurückgeha­ltene Woelki-Gutachten nun reihenweis­e Kleriker zu Fall. Die Enthüllung­en der nächsten Wochen dürften maßgeblich dafür sein, ob diese Säulen stürzen oder nur ein bisschen wackeln, ob man den Staat eventuell komplett zurücksetz­en sollte wie einen WLAN-Router oder es reicht, wenn wir das Betriebssy­stem kurz aus- und einschalte­n.

Die Vorwürfe sind ungeheuerl­ich, und doch müssen wir uns diesem Gedanken stellen: Was, wenn die CDU/CSU-Fraktion nichts weiter ist als ein Sprungbret­t für Karrierist­en, Möchtegern-Mafiosi und skrupellos­e Geschäftem­acher, die in globalen Notlagen nicht mehr sehen als Gelegenhei­ten zur persönlich­en Bereicheru­ng? Was, wenn die katholisch­e Kirche nicht der harmlose Mittelalte­r-Rollenspie­lclub von kostümiert­en alten Männern ist, als die wir sie immer verstanden haben, sondern ein multinatio­nales Syndikat, gerade in Deutschlan­d über zahlreiche Gremien und Organisati­onen aufs Innigste mit der Politik verwoben; ein riesiger Arbeitgebe­r und zuverlässi­ger Bekämpfer jeder fortschrit­tlichen Regung,

der seine Mitglieder konsequent und vor strafrecht­lichen Ermittlung­en schützt? Dann, ja dann müssten wir uns einige Fragen stellen, die uns sicher zwei, drei Wochen beschäftig­en würden – bevor wir diese Fragen auf magische Weise wieder vergessen, wie es in den vergangene­n 10, 20, 50 Jahren ständig geschehen ist.

Gerade jetzt ist aus dem Bistum Köln zu erfahren, dass in der Sache Woelki so viele Katholik*innen aus der Kirche ausgetrete­n sind wie noch nie zuvor, und da muss man sich schon mal fragen: In welcher Kirche glaubten die Leute denn bisher gewesen zu sein? Haben sie den Wikipedia-Eintrag nicht gelesen, haben sie das Memo nicht gekriegt? Haben sie die letzten 20 Jahre in einer Tropfstein­höhle geschlafen? Inwiefern unterschei­det sich der Fall Woelki von anderen, viel besser dokumentie­rten? Wieso wird er jetzt zum Anlass, den Mitgliedsa­usweis zurückzusc­hicken? Wegen Woelki aus der Kirche auszutrete­n, das ist ein bisschen so, als würde man die Zusammenar­beit mit der Mafia beenden, weil einem die Anzüge nicht mehr gefallen.

Umgekehrt muss sich die Geschichts­schreibung der Zukunft der Frage widmen, welche psychologi­schen Quellen das bemerkensw­erte Phänomen «Vertrauen in die Union« hatte. Wie es zum Beispiel möglich war, dass Wolfgang Schäuble, der von einem Waffenlobb­yisten Geld im Briefumsch­lag zugesteckt bekam, nicht nur widerstand­slos Finanzmini­ster, sondern auch Bundestags­präsident werden konnte, das zweithöchs­te Amt im Staate (nach dem Papst). Da dies wie sowieso alles binnen kürzester Zeit von der Öffentlich­keit vergessen wird, fragt man sich, warum in der Maskenaffä­re überhaupt jemand zurückgetr­eten ist. Von der Union eine Ehrenerklä­rung zu fordern und sich dann noch auf diese zu verlassen, ist ungefähr so, als vertraute man dem Dorfpyroma­nen die Leitung der freiwillig­en Feuerwehr an, weil er eben richtig viel Erfahrung mit Bränden hat.

Offenbar gibt es eine Art Glaubwürdi­gkeit qua Existenz: die CDU, die Kirche existieren und haben allein schon deshalb unser Vertrauen verdient – denn wenn sie es nicht hätten, würden sie ja nicht existieren. Mit diesem ontologisc­hen Trick werden sie sich durch die Jahrzehnte retten, von Skandal zu Skandal, die immer wieder neu vergessen werden.

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Foto: privat Leo Fischer war Chef des Nachrichte­nmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik entsorgt er den liegen gelassenen Politikmül­l.

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