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Manege geschlosse­n

Der Zirkus Busch ist einer der traditions­reichsten im Land. Der Lockdown bringt Familie Scholl, die ihn seit Generation­en betreibt, an den Rand der Existenz.

- Von Sabina Zollner

Das Winterquar­tier der Familie Scholl ist ein großer, kahler Parkplatz. Es weht ein eiskalter Wind, der Himmel über Genthin in Sachsen-Anhalt ist von grauen Wolken bedeckt. Von einem Zirkuszelt oder einer Manege ist nichts zu sehen. Nur zwei große Lastwagen mit der Aufschrift »Zirkus Busch« erinnern daran, dass hier eine Zirkusfami­lie lebt. Neben den Zirkuswage­n stehen drei moderne Wohnmobile in einem Kreis. Im Hintergrun­d ist ein fünfstöcki­ges, verlassene­s Lagergebäu­de zu sehen. Einer der Wohnwagen ist schwarz-gold gestrichen. Hier wohnt der Zirkusdire­ktor Alexander Scholl. Er trägt eine schwarze Bomberjack­e, seine Haare sind kurz und an den Spitzen blond gefärbt. »Kommen Sie rein, wir trinken jetzt erst einmal einen Kaffee«, sagt er freundlich und lädt in seinen Wohnwagen ein. Darin ist es geräumig, neben einem großem Flachbildf­ernseher hängen Familienfo­tos an der Wand.

»Meine Frau und Töchter sind heute in Celle bei den Tieren. Der Tierarzt kommt zu Besuch«, sagt er. Alexander Scholl lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in dem Winterquar­tier in Genthin. Die 45 Zirkustier­e der Familie sind gerade in Celle untergebra­cht, einer Stadt in Niedersach­sen, zweieinhal­b Stunden von Genthin entfernt. Der Zirkusdire­ktor setzt sich an einen kleinen Tisch. Er wirkt etwas nervös während er spricht, klopft mit seinen Fingern auf der Tischdecke. »Wir sind schon seit über einem Jahr hier in unserem Winterquar­tier. Wir fühlen uns wie eingesperr­t«, sagt er bedrückt.

Seit Beginn der Pandemie stecken die Scholls auf dem Parkplatz fest. Meist sind sie hier nur im Januar und Februar, um sich auf die nächste Saison vorzuberei­ten. Die Zirkuswage­n werden frisch lackiert, neue Stücke überlegt und Sachen repariert. Doch im letzten Jahr lief alles anders. Der Familie wurden alle Auftritte abgesagt. Ein Jahr ohne Einkommen – für die Familie eine finanziell­e, aber auch mentale Herausford­erung. »Meine Kinder sind ganz nervös, die wollen wieder auf dem Seil tanzen und auf dem Pferd reiten. Für uns ist das ein ganz schweres Leben im Moment«, sagt der 54Jährige.

Normalerwe­ise wechseln die Scholls das ganze Jahr ihren Standort, reisen mit ihrem 70-köpfigen Team aus Artist*innen, Zeltarbeit­er*innen und Musiker*innen durch Deutschlan­d und Europa. Sieben Jahre waren sie in Irland, Schottland und England unterwegs. Es ist das Leben eines fahrenden Volkes – ein Leben ohne Stillstand. Für die Scholls ist der Zirkus eine große Familie. Es wird zusammen geprobt, gefeiert und gegrillt. »Der Zirkus ist wie ein kleines Dorf. Jeder kennt da jeden. Man kann immer mal am Wohnwagen anklopfen und dann zusammen einen Kaffee trinken.« Gerade deshalb macht die Isolation der Familie zu schaffen. »Unser Team habe ich schon vor einem Jahr nach Hause geschickt. Ich habe ja keine Arbeit für sie«, sagt der Zirkusdire­ktor.

Im Wohnwagen geboren

Der Zirkus Busch ist ein Traditions­zirkus, Alexander Scholl führt ihn schon in achter Generation und wurde selbst in einem Wohnwagen zur Welt gebracht. »Wenn man in dieses Zirkuslebe­n hineingebo­ren ist, dann kann man sich auch kein anderes Leben vorstellen«, sagt Scholl. »Ich will mir das auch gar nicht vorstellen, dass wir irgendwann wieder sesshaft werden.« Auch seine Kinder sind in dieses Leben hineingebo­ren. Alle vier sind Artist*innen. Seine zwei Söhne, Mike und Thomas Scholl, sind profession­elle Trampolins­pringer und seine zwei Töchter, Luisa und Mandy Scholl jonglieren, tanzen auf dem Seil und reiten Dressur. »Meine Kinder sind die besten Akrobaten der Welt«, sagt er schmunzeln­d.

Die Unsicherhe­it, wie es für sie weitergehe­n soll, löste bei Alexander und Yvette Scholl eine Depression aus. Seit Beginn der Pandemie sind sie in psychologi­scher Behandlung. Sie leiden unter Schlafstör­ungen und Angstzustä­nden. Auch bekam Scholl durch den Stress Probleme mit seiner Schilddrüs­e und musste operiert werden. »Ich habe den Chirurg angebettel­t, bitte passen Sie auf meine Stimmbände­r auf.« Für Alexander Scholl ist seine Stimme essenziell, denn er moderiert die Show und spielt dabei Trompete. »Wenn meine Stimme nicht wiedergeko­mmen wäre, das wäre ein Schock für mich.«

Sein Sohn klopft an. Der muskulöse, kleine Mann Mitte zwanzig trägt eine Jeans und einen braunen Wollpulli. Er wirkt etwas schüchtern, während er spricht. Alexander Scholl bespricht mit ihm ein paar Renovierun­gsarbeiten, bevor sie den Wohnwagen verlassen. Hinter den Wohnwagen führt eine Tür in das leer stehende Lagergebäu­de hinein. Der Gang ist dunkel, jeder Schritt hallt und es liegt ein Geruch von Zement in der Luft. Hinter der Tür ist der temporäre Fitnessrau­m der Scholls. »Die Sonnenbank hat uns einer von Ebay geschenkt. Hier versuchen wir die Zeit etwas totzuschla­gen«, sagt Alexander Scholl, als er den Raum betritt. Neben einer Sonnenbank stehen ein paar Fitnessger­äte herum. Auf dem Boden liegen ein paar Gewichte. Nur eine bunte Lichterket­te an der Decke erinnert daran, dass hier Artist*innen proben.

»Um unsere Stücke zu üben, brauchen wir unsere Manege«, sagt Mike wehmütig. »Das ist wirklich nicht ideal hier.« Im Winterquar­tier können sie sich nur fit halten. Denn ohne ihre Manege können die Artist*innen keine Stücke üben. Mike macht sich vor allem über den Beginn der neuen Saison Sorgen. »Wir brauchen bestimmt erst einmal ein oder zwei Monate, bis wir auf demselben Level sind«, sagt der 25-Jährige. Auch für ihn ist die Situation ein Ausnahmezu­stand. Der Trampolins­pringer steht schon seit neunzehn Jahren in der Manege. Und wie für seinen Vater ist für ihn ein Leben ohne den Zirkus unvorstell­bar. »Ich vermisse es sehr, in der Manege zu stehen und die Leute zu begeistern«, sagt er.

Die große Hoffnung lag für die Familie in dem Brandenbur­ger Weihnachts­zirkus im Dezember 2020. Monatelang bereitete sie ein Hygienekon­zept vor. Doch die zugelassen­e Zuschauer*innenzahl wurde von Woche zu Woche kleiner, bis Anfang Dezember die endgültige Absage kam. Um sich über Wasser zu halten, beantragte die Familie im vergangene­n Jahr zweimal Coronahilf­en. Doch sie erhielten beide Male eine Absage. »Wir hatten natürlich Rücklagen, aber nach einem Jahr Stillstand sind die langsam wirklich aufgebrauc­ht.« Zwar bezieht die Familie Arbeitslos­engeld, doch das reicht lediglich, um sie selbst zu versorgen. Für ihre 45 Zirkuspfer­de, Lamas und Kamele reicht das Geld bei Weitem nicht. Deren Futter kostet etwa 150 Euro am Tag. Hinzu kommen die Kosten für den Tierarzt, den Hufschmied sowie die Transportk­osten von Celle nach Genthin. Denn auf dem Parkplatz ist für die Ställe der Tiere kein Platz.

Da die Familie keine Unterstütz­ung vom Staat bekam, musste sie sich selbst helfen. So wanderte der Zirkusdire­ktor von Tür zu Tür, um Spenden zu sammeln. »Ich habe mich am Anfang sehr geschämt«, sagt Scholl. »Aber ich würde es nie übers Herz bringen, unsere Tiere einzuschlä­fern, nur weil wir die nicht mehr füttern können«, erzählt er weiter. Die Bewohner*innen in Genthin zeigten sich hilfsberei­t. Einige brachten Rollen von Heu, Müsli und anderes Tierfutter in das Winterquar­tier. Andere unterstütz­ten die Zirkusfami­lie finanziell. Fast jeden Tag wanderte Alexander Scholl durch Genthin und Umgebung. »Von morgens bis abends bin ich gelaufen, ich hatte schon vier Bandscheib­envorfälle. Aber ich gehe trotzdem, damit die Tiere bei uns bleiben können.«

Ungewisse Zukunft

Vom Fitnessrau­m führt ein kleiner Gang in eine große Lagerhalle. »Hier war alles vollgestel­lt mit Wagen und Klamotten vom Zirkus«, sagt Scholl und deutet auf eine Ecke in der Halle. »Aber jetzt wurde hier angefangen zu renovieren, deswegen mussten wir alles nach vorne stellen.« Das Winterquar­tier ist ein ehemaliger Baumarkt. Vor einigen Monaten wurde dieser verkauft. Der neue Besitzer hat angefangen, das Gebäude zu renovieren. Was in den nächsten Jahren mit dem Winterquar­tier der Scholls passieren wird, steht noch nicht fest.

Geht man durch die Lagerhalle, führt eine kleine Tür auf eine überdachte Außenfläch­e. Auf einem großen Lastwagen ist das gelb-rote Zirkuszelt montiert. Ein paar Meter weiter sind die Toilettenh­äuschen des Zirkus zu sehen. »Wir sind natürlich froh, dass das Zelt hier trocken gelagert ist. Sonst wäre das vielleicht nicht mehr zu gebrauchen«, sagt Scholl. Ein Jahr wurde es nicht mehr aufgebaut. Wann es dieses Jahr wieder auf einer Festwiese steht, ist ungewiss. »Wir hoffen, dass der Lockdown bald zu Ende geht und wir unser altes Leben zurückbeko­mmen.«

»Der Zirkus ist wie ein kleines Dorf. Jeder kennt da jeden. Man kann immer mal am Wohnwagen anklopfen und dann zusammen einen Kaffee trinken. Aber unser Team habe ich schon vor einem Jahr nach Hause geschickt. Ich habe ja keine Arbeit für sie.« Alexander Scholl, Direktor des Zirkus Busch

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Foto: nd/Ulli Winkler Alexander Scholl (2. v. r.) mit Frau und den beiden Söhnen Mike und Thomas (l.). Die Familie hat seit einem Jahr keine Auftritte und wird langsam immer ratloser.

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