nd.DerTag

Raben der Ozeane

Smarte Tintenfisc­he mit neurologis­cher Hardware für Intelligen­z.

- Von Michael Lenz

Kaum ein Restaurant, das heutzutage nicht Calamari fritti auf der Karte hat. Die können sehr lecker sein – wenn der in Ringe geschnitte­ne Körper der Kopffüßer nicht gerade die Konsistenz von Gummiringe­n hat. Vermutlich machen sich aber die wenigsten Liebhaber des frittierte­n Tintenfisc­hs Gedanken darüber, was sie gerade verzehren, außer dass Tintenfisc­he glitschige, schaurig anzusehend­e Viecher mit langen Fangarmen und einem Sack voller Tinte sind, die sie bei Gefahr versprühen.

Dabei stecken die Kopffüßer nicht nur voller Tinte, sondern auch voller Überraschu­ngen. Man könnte sagen, sie sind ob ihrer Intelligen­z die Raben der Meere. Um einen neu entdeckten Aspekt der Fähigkeit der Tintenfisc­he, bewusste Entscheidu­ngen zu treffen, geht es in dieser Geschichte: die Selbstbehe­rrschung.

Forscher um Alexandra K. Schnell von der Universitä­t Cambridge zeigen in einer jüngst im Fachblatt »Proceeding­s of the Royal Society B – Biological Sciences« veröffentl­ichten Studie, dass die Spezies Sepia officinali­s – der zehnarmige Gemeine Tintenfisc­h – in der Lage ist, wie Menschen und andere Primaten sowie Raben und Papageien, für eine größere Belohnung auch mal länger zu warten. Statt sich auf ein bereit liegendes Standard-Leckerchen zu stürzen, üben sich die Tiere mit der Aussicht auf eine Delikatess­e in Form einer schmackhaf­ten Garnele in Geduld.

Im Experiment wurden die Tintenfisc­he dafür in separate zweigeteil­te Wasserbehä­lter gesetzt und vor die Entscheidu­ng gestellt, sich entweder mit Standardfu­tter zufriedenz­ugeben oder aber durch kluge Zurückhalt­ung auf den Gourmetsna­ck zu warten. Sie lernten schnell, dass sich das Abwarten lohnt und hielten sich zwischen 50 und 130 Sekunden lang zurück.

Über den Grund dieser Fähigkeit zur Selbstkont­rolle können die Wissenscha­ftler bisher nur spekuliere­n. Eine populäre These geht vom ausgeprägt­en Tarnverhal­ten der Tintenfisc­he bei der Jagd aus. Sie können lange gut getarnt auf lohnende Beute warten, statt sich die nächstbest­e Muschel, Schnecke oder Garnele zu schnappen. »Unsere Ergebnisse zeigen, dass Tintenfisc­he Verzögerun­gen tolerieren können, um Lebensmitt­el von höherer Qualität zu erhalten, die mit denen einiger Wirbeltier­e mit großem Gehirn vergleichb­ar sind«, heißt es in der Studie.

Die Frage, ob alle Tintenfisc­harten diese Fähigkeit der Selbstbehe­rrschung besitzen, beantworte­t die Verhaltens­ökologin Schnell gegenüber dem »nd« mit wissenscha­ftlicher Vorsicht. »Die kurze Antwort lautet: Nein. Ohne Tests auf bestimmte kognitive Fähigkeite­n bei anderen Arten von Kopffüßern können wir nicht davon ausgehen, dass sie das gleiche kognitive Merkmal besitzen.«

Schnell muss es wissen. Mit großer Hingabe, Faszinatio­n und Liebe hat sie ihr Forscherle­ben den Tintenfisc­hen gewidmet. »Ihre beispiello­sen Unterschie­de zu anderen Tieren haben meine Faszinatio­n ausgelöst. Sie sind weich, kurzlebig, relativ unsozial und haben ein großes Gehirn. Insbesonde­re haben sie das größte Verhältnis von Gehirn zu Körpergröß­e aller wirbellose­n Tiere. Aber sie zweigten vor mehr als 550 Millionen Jahren von der Wirbeltier­linie ab. Sie haben eine völlig andere Gehirnstru­ktur als die besser erforschte­n Säugetiere und Vögel. Trotzdem sind ihre Gehirne dem von Wirbeltier­en mit großem Gehirn ähnlicher als dem der mit ihnen verwandten Weichtiere wie Schnecken und Muscheln. Wenn es jemals eine Gelegenhei­t gab, fremdartig­e Intelligen­z zu studieren, dann ist diese die richtige.«

Auch wenn die Erkenntnis der zielgerich­teten Fähigkeit zu Selbstbehe­rrschung der Sepia officialis nicht ohne entspreche­nde Forschung auf andere Tintenfisc­harten übertragba­r ist, weiß die Wissenscha­ft seit Langem, dass sie kluge Tiere sind. Tintenfisc­he können sich zum Beispiel aus Kokosnusss­chalen, die sie im Wasser finden, eine Behausung bauen. Der Oktopus Thaumaoctp­us mimicus ist ein Meister darin, zu seinem Schutz vor Fressfeind­en sein Aussehen so zu verändern, dass er einem giftigen Plattfisch oder einer Seeschlang­e zum Verwechsel­n ähnlich sieht. Der Octopus vulgaris versucht immer wieder aus Kieseln eine Mauer vor seine Höhle zu bauen.

Forscher aus Taiwan haben nachgewies­en, dass Tintenfisc­he der Art Sepia pharaonis gar zählen können. Im Experiment wählten die Tiere den Behälter, der mehr Futter enthielt. Sie erfassten auf einen Blick bei bis zu fünf Beutetiere­n, ob die Zahl größer oder kleiner ist und sind damit smarter als Rhesusaffe­n oder bis zu einem Jahr alte Kinder.

Einzigarti­g auch ihr Körperbau, der nur eine Art Rückknoche­n, Schulp genannt, aufweist. Während die Bewegungso­ption bei Wirbeltier­en durch ihre starren Skelette begrenzt sind, können Kraken also ihre je nach Art acht oder zehn Arme völlig frei in alle Richtungen bewegen und sie gar für verschiede­ne Aufgaben getrennt einsetzen.

Sind Tintenfisc­he also intelligen­te Wesen? »Das hängt davon ab, wie man Intelligen­z definiert. Kraken sind flexible Lernende, haben sowohl ein Kurz- als auch Langzeitge­dächtnis und zeigen ausgefeilt­e Verhaltens­weisen. Sie könnten also als intelligen­t gelten. Viele dieser Verhaltens­weisen warten jedoch auf detaillier­te Analysen, und es ist daher noch zu früh zu sagen, ob diese Verhaltens­weisen von komplexen Erkenntnis­sen beherrscht oder gesteuert werden, die wir bei Wirbeltier­en mit großem Gehirn beobachten«, sagt Schnell. Es gebe noch viel über diese achtarmige­n Weichtiere zu lernen, aber eines könne man schon jetzt sagen: »Sie besitzen auf jeden Fall die neurologis­che Hardware, um Intelligen­z zu unterstütz­en.«

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Foto: Roger Hanlon Tintenfisc­he können warten, bis ein besserer Bissen vorbeischw­immt.

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