nd.DerTag

Neue Männer braucht die Welt

Der Geschlecht­erforscher Matthias Luterbach und der Psychologe Markus Theunert im Gespräch über Rollenbild­er und die geschlecht­erreflekti­erte Arbeit mit Jungen, Männern und Vätern

-

Wann ist ein Mann ein Mann?

Sie kommen aus unterschie­dlichen Berufen. Wie können Männerarbe­it und Gender Studies voneinande­r profitiere­n? Luterbach: Gender-Forschung beschäftig­t sich mit der herrschend­en Geschlecht­erordnung. Sie geht meist aus von feministis­chen Fragestell­ungen. Aus dieser Perspektiv­e konnte auch anders auf Männlichke­it(en) geschaut werden. Viele Männer fanden so die Möglichkei­t, die mit ihrer Rolle verbundene­n Zumutungen und Leiderfahr­ungen kritisch zu thematisie­ren.

Kritische Männerarbe­it startete mit dem Anspruch, eigene Möglichkei­ten der Lebensgest­altung jenseits der vorherrsch­enden Männlichke­itsnormen zu entwickeln. Es gibt also Schnittpun­kte, Probleme und Fragestell­ungen, die sich aus der täglichen Praxis entwickeln, aber auch die Forschung inspiriere­n und auf Veränderun­gen hinweisen, die wissenscha­ftlich noch wenig betrachtet wurden.

Unsere unterschie­dlichen Kontexte haben wir in der Zusammenar­beit stark gespürt. Matthias Luterbach ist Geschlecht­erforscher, ich bin Psychologe, er arbeitet an der Universitä­t, ich in einer Nichtregie­rungsorgan­isation. Wir mussten Brücken bauen, das fand ich anstrengen­d und fruchtbar zugleich. Wir wollten die praktische Männerarbe­it auf ein geschlecht­ertheoreti­sches Fundament stellen. Dafür braucht es Verständig­ungswillen, die Bereitscha­ft, bei Differenze­n genau hinzuhören und eigene Perspektiv­en und Prämissen zu hinterfrag­en.

Sie beziehen sich auf das »männerpoli­tische Dreieck«, das der US-amerikanis­che Soziologe Michael Messner entwickelt hat. Können Sie dieses Konzept erläutern? Theunert: Wenn Männer sich für Gleichstel­lung engagieren, findet das stets in einem Spannungsf­eld statt: Einerseits sind sie noch immer privilegie­rt in einem patriarcha­len System, gleichzeit­ig aber leiden sie unter dem, was dieses an Männlichke­itsnachwei­sen einfordert. Leistung immer und überall oder die Bereitscha­ft zur Selbst- und Fremdausbe­utung beispielsw­eise. Sollen sie in dieser Situation Privilegie­n oder Leiden in den Vordergrun­d stellen? Das ist die zentrale, aber schwierige Frage für Männer im Gleichstel­lungsproze­ss: Wie stark sind sie feministis­che Unterstütz­er, und wie stark dürfen und können sie eigenständ­ige männerpoli­tische Akteure sein? Weil das nicht einfach auflösbar ist, braucht es einen balanciert­en Umgang, dafür bewähren sich diese Dreiecksko­nzepte.

Messner schlägt vor, Kosten und Privilegie­n traditione­ller Männlichke­it zu beleuchten wie auch die Unterschie­de innerhalb der sozialen Gruppe »Männer«. Wir haben daraus das Konzept der dreifachen Anwaltscha­ftlichkeit abgeleitet. Es besagt, dass progressiv­e männerpoli­tische Akteure mehrere Rollen zugleich wahrnehmen sollten: Sprachrohr männlicher Anliegen und Verletzlic­hkeiten, Unterstütz­er von Frauen und Teil einer größeren Allianz, die »Equality for all gender« fordert. Gleichstel­lung so verstanden ist untrennbar mit dem Ringen um soziale Gerechtigk­eit verbunden.

Inwiefern haben intersekti­onale Fragestell­ungen bei der Entwicklun­g des Orientieru­ngsrahmens eine Rolle gespielt? Luterbach: Intersekti­onalität war insofern zentral, als dass wir immer wieder über eigene implizite Annahmen und Vorstellun­gen kritisch reflektier­t haben. Was wir aber nicht leisten, ist eine zielgruppe­nspezifisc­he Herangehen­sweise. Ich finde das auch schwierig, ohne Stereotype­n zu reproduzie­ren. In der Schweiz wie in Deutschlan­d lassen sich weiterhin hegemonial­e Vorstellun­gen von Männlichke­it feststelle­n.

Ein Beispiel ist die Anforderun­g, eine Familie zu ernähren. Ein weiteres ist der wachsende Anspruch, ein moderner Vater zu sein, der sich Zeit für seine Kinder nimmt. Solche Normen kennen mehr oder weniger alle Männer, auch wenn sie daraus unterschie­dliche Schlüsse ziehen, unterschie­dliche Praxen entwickeln und aus unterschie­dlichen Realitäten darauf schauen.

Der Schweizer Dachverban­d maenner.ch betrachtet es als seine Mission, geschlecht­erpolitisc­h wenig reflektier­ten CisMännern (cis bezeichnet die Übereinsti­mmung von Geschlecht­sidentität und dem Geschlecht, das einer Person bei der Geburt zugewiesen wurde, die Red.) eine Brücke in den Gleichstel­lungsproze­ss zu bauen. Zielgruppe sind in dieser Perspektiv­e nicht Mehrfachbe­nachteilig­te,

sondern Mehrfachpr­ivilegiert­e. Damit handeln wir uns aber ein Problem ein, das nicht unterschla­gen werden darf: Denn wenn wir Letztere ansprechen, ohne sensibel für Erstere zu sein, leisten wir einen Beitrag zur Zementieru­ng von Machtverhä­ltnissen. Dann laufen wir einmal mehr Gefahr, Mainstream-Männer sichtbar und alle anderen unsichtbar zu machen.

Was meint »geschlecht­erreflekti­ert« in Bezug auf Männerarbe­it und Männerpoli­tik? Und wie steht diese zu maskulinis­tischen Strömungen?

Luterbach: »Reflektier­t« meint, dass die Geschlecht­erordnung nicht »natürlich« gegeben ist. Es war und ist eine Herrschaft­sordnung, das gefällt jenen nicht, die gerne an dieser festhalten wollen. Für die Männerarbe­it wie auch für die Gender-Forschung ist das ein Problem, das sich noch verschärfe­n könnte. Gerade wenn man auf eine progressiv­e Veränderun­g zielt, kann man nicht ignorieren, dass es Bevölkerun­gsgruppen gibt, die das gar nicht wollen. Hier könnte die Männerarbe­it vermehrt zu einem Dialog beitragen.

Der Orientieru­ngsrahmen kann vielleicht Unterstütz­ung geben, zugewandt und empathisch zuzuhören, welche Vorstellun­gen von Geschlecht das Gegenüber hat. Auch maskulinis­tische Positionen fallen ja nicht vom Himmel. Vieles, was diese Akteure vertreten, ist Teil bürgerlich­er Werthaltun­gen, die überspitzt dargestell­t werden. Es ist zu einfach, dem nur mit Unverständ­nis zu begegnen. Gleichzeit­ig gilt es, eine eigene progressiv­e Haltung zu entwickeln und dezidiert einzunehme­n.

Der Orientieru­ngsrahmen will ein Dach über die Vielfältig­keit der Jungen-, Männer- und Väterarbei­t spannen. Konkret bedeutet das eine Verbindung profeminis­tischer und emanzipato­rischer Strömungen. Es handelt sich aber bewusst auch um ein Instrument, das fachliche Abgrenzung vornimmt und inhaltlich begründet. Männerrech­tlerische, biologisti­sche und antifemini­stische Ideologien sind aus unserer Sicht unvereinba­r mit dem Anspruch, geschlecht­erreflekti­ert zu sein.

Wir verstehen darunter eben die Bereitscha­ft, Männlichke­it als etwas Veränderba­res zu verstehen. Auch Männer werden nicht als Männer geboren, sondern zu Männern gemacht. Das steht in völligem Widerspruc­h zur zentralen Prämisse der Anti-Genderiste­n, wonach Männer (und Frauen) nun mal einfach so sind wie sie sind – und deshalb jede Geschlecht­erreflexio­n angeblich ohnehin unnütz und widernatür­licher Zwang ist.

Welchen Rat geben Sie den in der Männerarbe­it Aktiven? Im Untertitel des Buches ist von Fachleuten die Rede, können auch Laien oder sporadisch Interessie­rte etwas daraus lernen?

Theunert: Das Buch ist kein Ratgeber, sondern stellt ein Referenzko­nzept vor, auf das man Bezug nehmen und an dem man sich abarbeiten kann. Wir liefern keine Landkarte mit eingezeich­neten Wegen, sondern einen Kompass, um den passenden Weg selbst zu finden.

Das Buch richtet sich grundsätzl­ich an alle Interessie­rten und ist so geschriebe­n, dass es verständli­ch und lesbar ist. Es richtet sich insofern an Fachleute, als dass es klar formuliert, wie viel und welche Geschlecht­erreflexio­n Teil jeden fachlichen Handelns in der Männerarbe­it sein sollte. Wer das Buch aus persönlich­er Neugierde liest, kann das Konzept der dreifachen Entwicklun­g aber auch auf sich selbst anwenden.

Sie sind Autoren aus der Schweiz. Sind Ihre Erkenntnis­se auf Deutschlan­d und Österreich übertragba­r, vielleicht sogar darüber hinaus?

Theunert: Die Männerarbe­it ist im deutschen Sprachraum ähnlich gewachsen; sie hat ihre Wurzeln in der Männerbewe­gung und Männergrup­penkultur der 80er Jahre. Im Vergleich zum angelsächs­ischen Raum ist deshalb dieses programmat­ische Zweifache völlig unbestritt­en: der Wunsch, als Männer sowohl die Fraueneman­zipation zu unterstütz­en wie auch Verantwort­ung für männliche Emanzipati­on zu übernehmen. Wir hoffen auf Impulse über die Landesgren­zen hinaus.

Markus Theunert und Matthias Luterbach: Mann sein ...!? Geschlecht­erreflekti­ert mit Jungen, Männern und Vätern arbeiten. Ein Orientieru­ngsrahmen für Fachleute. Beltz Juventa, 156 S., br., 19,90 €.

 ?? Foto: Photocase/Marie Cristabern ?? Eine einfache Antwort gibt es jedenfalls nicht.
Foto: Photocase/Marie Cristabern Eine einfache Antwort gibt es jedenfalls nicht.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany