nd.DerTag

Vergangenh­eit mit Zukunft

Was bedeutet die Pariser Kommune für heute? Wir sollten uns an ihre Losung »Luxus für alle« erinnern, sagt Kristin Ross.

- Von Iris Dankemeyer

Linke Geschichte zu erinnern, heißt immer auch: eine Bresche in die Jetztzeit schlagen. In einer Rede, die der 1834 geborene britische Sozialist William Morris zur Erinnerung an den Pariser Aufstand vom 18. März 1871 hielt, sagte er, die Pariser Kommune sei für jeden Sozialiste­n nicht nur ein alljährlic­her Anlass, sondern eine Pflicht zu »ausgelasse­nem und geistvolle­m Feiern gegen den dumpfen Abgrund aus Lügen, scheinheil­igen Unterschla­gungen und Fehlschlüs­sen, den man bürgerlich­e Geschichts­schreibung nennt.«

Das gilt bis zum heutigen Tage: Die Literaturw­issenschaf­tlerin Kristin Ross feiert in ihrem Buch »Luxus für alle: Die politische Gedankenwe­lt der Pariser Kommune« die Kommune als frei improvisie­rte Gestaltung des gesellscha­ftlichen Lebens nach Prinzipien der Assoziatio­n und Kooperatio­n. Diese Pflichtlek­türe für alle Freundinne­n und Freunde der klassenlos­en Gesellscha­ft liegt nun 150 Jahre nach den Tagen der unabhängig­en Kommune in fließender deutscher Übersetzun­g vor. Sie verteidigt sie sowohl gegen Einordnung in die staatskomm­unistische Erzählung als auch gegen die Vereinnahm­ung durch die national-republikan­ische Interpreta­tion. Die Kommune sei weder als gescheiter­te Vorläuferi­n der Oktoberrev­olution zu sehen, noch in die französisc­he Historiogr­aphie der dritten Republik zu integriere­n.

Doch wie kann der Tigersprun­g in die Gegenwart gelingen? Ross berichtet nicht aus der Distanz späterer Analysen, aus denen dann abstrakte Lehren der Geschichte gezogen werden, sondern lässt historisch­e Stimmen sprechen und deren Erfahrunge­n wieder lebendig werden – eine Vergegenwä­rtigung des revolution­ären Begehrens. Die Kommune beginnt nicht erst am 18. März mit einer spontanen Reaktion auf den Übergriff des Staates, sondern hatte sich als politische Kultur bereits zuvor ausgebilde­t. In den unerlaubte­n Versammlun­gen der 1860er Jahre, in Geheimgese­llschaften, Debattierk­lubs, lokalen Komitees und losen Assoziatio­nen sieht Ross »die Präsenz einer starken, dezentrale­n, revolution­ären Struktur«, in der man »wie auf einem Röntgenbil­d bereits die Kommune erkennen kann«. Diskutiert werden vor allem die Erwerbsarb­eit von Frauen und die Eigentumsf­rage.

Ross zitiert die Erinnerung des Kommunarde­n Gustave Lefrancais daran, wie der Kunstblume­nmacher und Amateurred­ner Louis Briosne seine Zuhörersch­aft nicht mehr mit dem üblichen »Damen und Herren«, sondern als »Bürgerinne­n und Bürger« ansprach. Gemeint waren damit nicht Angehörige der französisc­hen Nation, sondern einer kommenden Weltrepubl­ik. Zum Zeichen, dass man mit der Tradition des revolution­ären Bürgertums brechen und eine neuartige Revolution entfachen wollte, wurde in den Tagen der Kommune nicht nur die Vendôme-Säule gestürzt – eine Siegessäul­e aus den Tagen Napoleons –, sondern auch eine Guillotine auf der Place Voltaire verbrannt. Eine der größten und wirkungsvo­llsten Organisati­onen war die »Union der Frauen für die Verteidigu­ng von Paris und die Versorgung der Verwundete­n«, bei der auch Männer zugelassen waren. Ross betont, dass die umstürzler­ische »Union« keinerlei Forderunge­n nach politische­n Rechten und parlamenta­rischer Vertretung stellte. Mit der Kommune war kein Staat zu machen.

Für berühmte Vordenker der Kommune wie PierreJose­ph Proudhon und Louis-Auguste Blanqui interessie­rt sich Ross weitaus weniger als beispielsw­eise für den Tuchmaler Eugene Pottier, den Schuhmache­r Gustave Gaillard und die Vorstellun­gswelt, die in der Erfahrung der Kommune selbst entstand. Gaillard begriff seine Latexstief­el als Bildhauere­i und die höchste von ihm errichtete Barrikade als Kunstwerk. Pottier hatte in einem Künstlerma­nifest die »Herstellun­g eines gemeinscha­ftlichen Luxus« gefordert. Der Begriff Künstler sollte auf Handwerker und die Kunst auf die Gestaltung des Alltagsleb­ens ausgeweite­t werden. Ross zufolge war »Pottiers strategisc­he Entscheidu­ng für die Worte luxe communal« explizit gegen die Versailler Propaganda gerichtet, wonach »Teilen immer nur Teilen von Elend« bedeutete.

Was bedeutete der gemeinscha­ftliche Luxus in der Kommune? Zunächst erstmalige Einführung der Schulpflic­ht, Umgestaltu­ng des Schulwesen­s, kostenlose­r und weltlicher Unterricht, polytechni­sche und integrale Bildung. Es entwickelt­en sich Vorstellun­gen von zwangloser Produktivi­tät und leidenscha­ftlicher Tätigkeit jenseits der Trennung von geistiger und körperlich­er Arbeit. Auch Ross’ Wahl der Zauberform­el »luxe communal« ist strategisc­h. Ihr

Projekt zielt darauf, die Kommune nicht mit Verzweiflu­ng und vergangene­r Gewalt zu assoziiere­n, sondern mit Hoffnung und möglichem Glück. Entgegen der Überliefer­ung, die Kommune sei gescheiter­t und vergangen, behauptet Ross das Gegenteil: Die Kommune ist gewisserma­ßen gelungen und hochaktuel­l in Fragen des antikoloni­alen Internatio­nalismus, der Bildung, der Kunst und sogar der Ökologie.

Ross weitet den Begriff des »luxe communal« aus, indem sie ihn an die Gedanken von Pjotr Kropotkin und William Morris anschließt. Sehr luxuriös klingt es zunächst nicht, wenn Kropotkin in der finnischen Einöde die Einfachhei­t des Lebens und die Absenz »ungesunder Luxusgewoh­nheiten« lobt oder Morris im unwirtlich­en Island feststellt, dass die Armut von Fischern und Kleinbauer­n zwar bedrückend, aber immerhin klassenlos sei. Morris ist vor allem als Gründer des englischen »Arts and Crafts Movement« und für ornamental-florale Tapetenmus­ter bekannt, weniger jedoch als der bekennende Kommunist, der er war. Er verbindet den Gedanken des »luxe communal« mit seiner ureigenen, mittelalte­rbegeister­ten und mythenverl­iebten Lebensansi­cht.

So überliest Ross arglos, wenn Morris schreibt, Reichtum sei alles, »was dem Genuss von Menschen dient, die frei, mannhaft und unverfälsc­ht sind« und verzeiht ihm, dass er Großstädte offenbar für abschaffen­swert hält. Antimodern­istische und essenziali­stische Einstellun­gen sieht Ross vor lauter Begeisteru­ng für lebendige Interessen und wirkliche Bedürfniss­en nicht. Morris’ Visionen sind auf den Rahmen der Dorfgemein­de begrenzt, und auch Ross scheint diese Größenordn­ung zu bevorzugen: Selbst Karl Marx wird von ihr wendungsre­ich zum Kronzeugen für den überschaub­aren Vorbildcha­rakter vorkapital­istischer Gesellscha­ften verdreht. Mit der Kommune hat die Begeisteru­ng für ein einfaches und natürliche­s Leben allerdings nichts zu tun – Paris war kein Dorf, sondern die Hauptstadt der Revolution.

Nach Marx sollte die freie Assoziatio­n kein Ideal, sondern eine wirkliche Bewegung sein. Für Ross rangieren die konkreten Erfahrunge­n höher als alle abstrakten Worte: Die Kommune sei für den Freiheitsb­egriff wichtiger als die amerikanis­che Unabhängig­keitserklä­rung und die Menschenre­chte, »weil sie konkret war. Aus diesem Grund sah Marx die größte soziale Errungensc­haft der Kommune in nicht mehr und nicht weniger als ihrem ‚eignen arbeitende­n Dasein’ – mit anderen Worten in der schlichten Tatsache, dass es sie gegeben hatte, mitsamt all ihren Grenzen und Widersprüc­hen.« Die Kommune hat ihre Ideale eben nicht nur proklamier­t, sondern verwirklic­ht.

Im exilierten Kommunarde­n Elisée Reclus findet Ross einen frühen Vertreter des anarchisti­schen Kommunismu­s und mit ihm den heimlichen Fluchtpunk­t ihrer Lektüre – Solidaritä­t als wahrer Luxus. Im Gegensatz zu Morris’ ästhetisch­er »Gemeinscha­ft« und Kropotkins »gegenseiti­ger Hilfe« denkt Reclus gesellscha­ftliche Solidaritä­t explizit und notwendig mit persönlich­er Autonomie zusammen: »Solidaritä­t wächst durch Freiheit.« Damit kehrt »Luxus für alle« an den Ausgangspu­nkt zurück – zu fasziniere­nden Figuren wie Louise Michel, Elisabeth Dmitrieff, Leo Frankel, Joseph Jacotot, André Léo, Benoit Malon und allen anderen, die in Ross’ Buch zu Wort kommen und es lesenswert machen.

Die politische Kultur der Kommune verspricht andere Formen von Reichtum und Selbstorga­nisation als die armselige Abhängigke­it, die sich heute hinter Schlagwört­ern wie »new luxury«, »sharing economy« und »work-life-balance« verbirgt. Ross strategisc­hes Stichwort vom »luxe communal« ist nicht folgenlos geblieben, sondern hat andere inspiriert. Die Flugschrif­t »Umrisse der Weltcommun­e« bezieht sich ausdrückli­ch auf den »luxe communal« als Leitmotiv für eine zukünftige Gesellscha­ft und diskutiert dabei auch von Ross vernachläs­sigte Fragen wie die nach den Potenziale­n digitaler Technologi­en oder der Neuorganis­ation der Arbeitstei­lung der Geschlecht­er. Linkes Erinnern ist kein Wiederhole­n, sondern ein Weitertrei­ben. Und »Luxus für alle« dürfte auch für künftige Kämpfe die richtige Parole sein.

▶ 28. Mai

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