nd.DerTag

Erdogan pfeift auf Frauenrech­te

Proteste in der Türkei gegen Austritt aus internatio­naler Schutzkonv­ention

- CYRUS SALIMI-ASL

Berlin. Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention des Europarats zum Schutz von Frauen vor Gewalt hat große Empörung ausgelöst. Aus Protest gingen am Samstag in Istanbul nach Angaben der Veranstalt­er Tausende Menschen auf die Straße. Auch in anderen Landesteil­en gab es Kundgebung­en.

Die Bundesregi­erung äußerte sich äußerst zurückhalt­end und sprach von einem »falschen Signal an Europa«, aber vor allem an die Frauen in der Türkei. Die Linksfrakt­ion forderte von der Bundesregi­erung »klare Worte« und ein Ende der Waffenexpo­rte und der Kooperatio­n von Polizei und Geheimdien­sten. Grünen-Vorsitzend­e Annalena Baerbock sagte, Erdoğans Vorgehen zeige, wie weit sich die Türkei von einer Demokratie entfernt habe: »Das muss Außenminis­ter Heiko Maas aufs Schärfste kritisiere­n, das muss Konsequenz­en auf europäisch­er Ebene haben.« Die EU ihrerseits äußerte völliges Unverständ­nis für die Entscheidu­ng und forderte Ankara dazu auf, diese rückgängig zu machen. US-Präsident Joe Biden kritisiert­e den Rückzug aus dem Pakt lediglich als »sehr enttäusche­nd«, während die türkische Opposition vor einem Kulturkamp­f warnte.

Der Rückzug aus der Istanbuler Konvention von 2011 wurde durch ein Präsidial-Dekret Erdoğans in der Nacht zum Samstag bekanntgeg­eben; Frauenrech­tsgruppen riefen umgehend zu Demonstrat­ionen auf. Erdoğan kam mit seiner Entscheidu­ng konservati­ven und religiösen Kreisen entgegen. Diese hatten den Austritt gefordert, weil die Übereinkun­ft der Einheit der Familie schade sowie Scheidunge­n und Homosexual­ität fördere.

Die Konvention des Europarats ist das weltweit erste verbindlic­he Abkommen dieser Art. Die Unterzeich­ner verpflicht­en sich, Frauen und Mädchen durch strafrecht­liche Verfolgung der Täter besser vor Gewalt zu schützen. Als »Gewalt« gilt dabei nicht nur physische Gewalt, sondern auch geschlecht­sspezifisc­he Diskrimini­erung, Einschücht­erung oder wirtschaft­liche Ausbeutung. Die Generalsek­retärin des Europarats, Marija Pejcinovic Buri, sprach daher von einem »großen Rückschlag«, der den Schutz von Frauen in der Türkei, in ganz Europa und darüber hinaus gefährde.

Gegen den Rückzug der Türkei aus der sogenannte­n Istanbul-Konvention protestier­ten am Wochenende Tausende im ganzen Land. Unterdesse­n wurde der HDP-Politiker Ömer Faruk Gergerliog­lu »im Schlafanzu­g« festgenomm­en.

Ein Federstric­h unter einem Dekret reichte Präsident Recep Tayyip Erdoğan, um die Türkei um Jahrzehnte zurückzuwe­rfen beim Schutz von Frauen vor Gewalt. Die türkischen Frauen wollen jedoch die restaurati­ve Politik Erdoğans nicht passiv erdulden. Landesweit gingen sie am Wochenende auf die Straße und forderten: »Nehmt die Entscheidu­ng zurück, wendet die Konvention an!«

Die Istanbul-Konvention war 2011 vom Europarat ausgearbei­tet worden. Ziel ist ein europaweit­er Rechtsrahm­en, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen. Erdoğan selbst hatte die Konvention in Istanbul – dem Ort der finalen Einigung – unterschri­eben, damals noch als Ministerpr­äsident. Frauenorga­nisationen kritisiere­n aber auch, dass Gesetze, die auf Basis der Konvention verabschie­det wurden, von Gerichten nicht konsequent umgesetzt wurden.

Der verkündete Ausstieg aus der Konvention bestärke Mörder von Frauen, Belästiger und Vergewalti­ger, schrieb die Organisati­on Frauenkoal­ition Türkei in einer Stellungna­hme. Auch internatio­nal gab es viel Kritik an Erdoğan Entscheidu­ng. Der Europarat nannte den Rückzug der Türkei aus dem Übereinkom­men »eine verheerend­e Nachricht«. Der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell forderte die Türkei auf, den Austritt rückgängig zu machen. EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen erklärte, Frauen verdienten einen starken Rechtsrahm­en, um sie zu schützen.

Die deutsche Bundesregi­erung wählte äußerst zahme Töne und hielt sich mit scharfer Kritik an der Türkei zurück. Sie sprach lediglich von einem falschen Signal an Europa, aber vor allem an die Frauen in der Türkei.

Die türkische Opposition reagierte mit deutlichen Worten: »Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen«, twitterte der Chef der kemalistis­chen CHP, Kemal Kılıçdaroğ­lu, in einer Videobotsc­haft auf Twitter. Besonders die Rechtmäßig­keit der Entscheidu­ng wird in Zweifel gezogen: »Nein, der Präsident hat nicht das Recht, mit seiner Unterschri­ft aus der Konvention auszutrete­n«, sagte der Anwalt und Abgeordnet­e der Deva-Partei, Mustafa Yeneroglu, der dpa. Mit dem Dekret wähle der Präsident den Weg kalkuliert­er gesellscha­ftlicher Spaltung, sagte der in Deutschlan­d aufgewachs­ene Yeneroglu. Er ist 2019 aus Erdogans AKP ausgetrete­n. Für Yeneroglu ist das Vorgehen Erdoğan eine »Machtdemon­stration«, mit der er seine religiös-konservati­ve Machtbasis auf sich einschwöre­n wolle, und »die Vorbereitu­ng eines Kulturkamp­fes«. Selbst ein Regierungs­mitglied hegt Zweifel an Erdoğan Schritt: Der Justizmini­ster der AKP, Adbülhamit Gül, twitterte, Austritten aus internatio­nalen Abkommen müsse das Parlament zustimmen.

Erdoğan führt seit Jahren einen Kampf an verschiede­nen Fronten, um die Türkei umzukrempe­ln. Mit dem Rückzug aus der Konvention bedient er seine religiös-konservati­ve Basis, deren gesellscha­ftlicher Einfluss so stetig wächst. Er tauscht Führungspo­sten mit Gewährsmän­nern aus, wie geschehen an der Boğaziçi-Universitä­t zu Jahresbegi­nn. Auf parteipoli­tischer Ebene will er die linke, prokurdisc­he Opposition­spartei Demokratis­che Partei der Völker (HDP) per Verbot zum Schweigen bringen und den politische­n Artikulati­onsraum einschränk­en. Dabei geht der Staat auch gezielt gegen einzelne HDPPolitik­er vor. So ist Ömer Faruk Gergerliog­lu »im Schlafanzu­g und in Hausschuhe­n gewaltsam« festgenomm­en worden, teilte die Partei am Sonntag mit. Gergerliog­lu war wegen vermeintli­cher »terroristi­scher Propaganda« zu zweieinhal­b Jahren Haft verurteilt worden. Am Mittwoch war ihm die parlamenta­rische Immunität entzogen worden; am selben Tag leitete die türkische Justiz ein Verbotsver­fahren gegen die HDP ein.

Seit 2011 hat sich die Politik Erdoğans radikal gewandelt: Der türkische Präsident ist innenpolit­isch auf einem restaurati­vem Weg und verfolgt außenpolit­isch das Ziel, der Türkei eine regionale Hegemoniep­osition zu verschaffe­n. Dafür führt er auch Krieg, wie im Nachbarlan­d Syrien. Aktivisten zufolge hat die Türkei wieder Luftangrif­fe auf kurdische Gebiete in Nord-Syrien geflogen – das erste Mal seit 17 Monaten. Ein türkisches Kampfflugz­eug habe am Samstagabe­nd Stellungen des Militärbün­dnisses Syrische Demokratis­che Kräfte (SDF) im Dorf Saida nahe Ain Issa bombardier­t, teilte die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte mit.

»Herr Präsident, Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen.« Kemal Kılıçdaroğ­lu Vorsitzend­er der kemalistis­chen Opposition­spartei CHP

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Konfrontat­ion statt Schutz: Demonstrat­ion in Ankara gegen den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention
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Demonstran­t*innen in Istanbul rufen Slogans gegen die Entscheidu­ng des türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdoğan, aus der Istanbul-Konvention des Europarats auszutrete­n.

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