nd.DerTag

Weil er es kann

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Jana Frielingha­us über den Rückzug der Türkei aus dem Abkommen für den Schutz von Frauen vor Gewalt

Lange hatte die Türkei ein – für ein von patriarcha­len Strukturen geprägtes Land – bemerkensw­ert fortschrit­tliches Familienre­cht. Das ist Verdienst einer starken Frauenbewe­gung mit langem Atem. Aktivistin­nen wie die jüngst in Berlin mit dem Anne-KleinFraue­npreis geehrte Anwältin Cânân Arın haben maßgeblich­en Anteil daran, dass 1998 ein Gesetz zum Schutz von Frauen vor familiärer Gewalt verabschie­det wurde. Und 2012 war das türkische Parlament das erste, das das Übereinkom­men des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifizier­te. Allerdings: Es passierte seither wenig bis nichts, um die damit verbundene­n Selbstverp­flichtunge­n zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Zwangsheir­at, Kinderehe, oft tödlicher Gewalt durch Ehemänner und andere Angehörige mit Leben zu erfüllen. Im Gegenteil. Für Recep Tayyip Erdoğan, seit 2014 Präsident und zuvor langjährig­er Ministerpr­äsident, ist es seit jeher erklärtes Ziel, das Rad der Geschichte in Sachen Selbstbest­immungsrec­hte der Frauen zurückzudr­ehen. Und seine Partei AKP hetzt gegen Homosexuel­le, Transgende­r-Personen und andere, die nicht der vorgegeben­en Norm entspreche­n.

Den Austritt aus der Istanbul-Konvention, die auch diese Minderheit­en schützt, hatte Erdoğan seit langem angekündig­t. Sie zerstöre »die Familie«, hatte er das begründet. Dass dies für viele Frauen in der Türkei die Gefahr für Leben und Gesundheit weiter erhöht, liegt auf der Hand. Die Regierunge­n der EU, allen voran die deutsche, sind in hohem Maße mitverantw­ortlich dafür. Denn mit dem Deal, der dafür sorgte, dass Ankara vor allem syrische Geflüchtet­e an der Weiterreis­e in die EU hindert, hat man sich 2015 in eine Abhängigke­it begeben. Und so kann die lasche Kritik aus Berlin am geschlecht­erpolitisc­hen Rückschrit­t nur als Heuchelei bezeichnet werden.

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