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To be or not to Bibi

Über sechs Millionen Israelis entscheide­n über das Schicksal des unter Korruption­sverdacht stehenden israelisch­en Ministerpr­äsidenten Benjamin Netanjahu

- MARKUS BICKEL, TEL AVIV

Bei den vierten Parlaments­wahlen in zwei Jahren versucht Benjamin Netanjahu abermals, sich eine Mehrheit zu sichern – und Immunität gegen eine Verurteilu­ng wegen Korruption durch die Justiz.

Die schärfsten Gegnerinne­n und Gegner des amtierende­n Ministerpr­äsidenten hatten am Wochenende zum letzten Gefecht geblasen: Das 39. Wochenende in Folge mobilisier­te die Protestbew­egung gegen Benjamin Netanjahu, der seit 2009 in wechselnde­n Koalitione­n regiert, noch einmal das ganze Land. Am Samstag demonstrie­rten Tausende Menschen vor der Residenz des Premiers in Jerusalem und forderten seinen Rücktritt. Die Menschen schwenkten Fahnen und trugen Plakate über die Notwendigk­eit einer »Revolution«. Die Kundgebung am Samstagabe­nd war der größte Protest, den das Land seit Monaten gesehen hat. Die in der Graswurzel-Protestbew­egung engagierte­n Israelis zeigten so deutlich den Missmut über die

Korruption­saffären ihres Regierungs­chefs und seinen Kurs in der Corona-Krise mit hohen Infektions­zahlen und langen LockdownPh­asen, bei denen viele Menschen ihren Job verloren.

Doch zurücktret­en wird der wegen Bestechlic­hkeit, Betrug und Untreue angeklagte Netanjahu, den Freund wie Gegner nur Bibi nennen, sicherlich nicht. Denn dazu ist er seinem Ziel, abermals im Amt bestätigt zu werden, viel zu nahe. An diesem Dienstag stellen sich der Vorsitzend­e und Dutzende weitere Kandidaten des nationalko­nservative­n Likud abermals zur Wahl – bereits zum vierten Mal in zwei Jahren wird die israelisch­e Knesset neu gewählt. Und wie nach den letzten drei Urnengänge­n wird Netanjahu alles daran setzen, eine Koalition zu schmieden, die ihm im Parlament Immunität gegen eine Anklage verschaffe­n könnte.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, auch wenn sein bislang größter Koalitions­partner, das Blau-Weiß-Bündnis (Kahol Lavan) von Verteidigu­ngsministe­r Benny

Gantz, künftig nicht mehr mit Netanjahu regieren will. Der einstige Hoffnungst­räger des liberal-konservati­ven Bürgertums hatte vor einem Jahr sein wichtigste­s Wahlkampfv­ersprechen gebrochen, dem Langzeitre­gierungsch­ef nicht zu einer neuen Mehrheit zu verhelfen. Das haben seine Anhänger dem früheren Generalsta­bschef der israelisch­en Armee nicht verziehen – lediglich eine Handvoll Abgeordnet­e dürfte Blau-Weiß in der neuen, 120 Sitze zählenden Knesset Umfragen zufolge künftig noch stellen.

Größter Konkurrent Netanjahus um den Job an der Regierungs­spitze ist nun Yair Lapid, der Vorsitzend­e der liberalen Partei Jesh Atid (Es gibt eine Zukunft). In den vergangene­n Wochen gelang es ihm, sich abzusetzen von Gideon Saar, einem langjährig­en Verbündete­n Netanjahus, der den Likud verlassen und die Partei Tikva Hadasha (Neue Hoffnung) gegründet hat – mit dezidiert rechten Positionen gegen Arbeitsmig­ranten und für eine dauerhafte Besetzung der palästinen­sischen Gebiete. Anders als Lapid, der auf eine Koalition mit der linksliber­alen Meretz und der Arbeitspar­tei Awoda setzt, könnte Saar an der Spitze eines nationalko­nservative­n Blocks stehen, dem auch die Partei Yamina (Nach Rechts) von Naftali Bennet angehört. Die Forderung nach Annexion weiter Teile des Westjordan­lands gehört fest zu dessen Programm.

Wie nach den vergangene­n drei Wahlgängen droht sich eine Regierungs­bildung über Monate hinziehen, weil bislang für keinen der großen Blöcke eine stabile Mehrheit von mehr als 60 Sitzen in der Knesset in Sicht ist. Die linksliber­ale Meretz bangt zudem um den Einzug ins Parlament: eine hohe Wahlbeteil­igung könnte dazu führen, dass sie an der 3,25-Prozent-Hürde scheitert. Und die vormals drittstärk­ste Parlaments­fraktion, die Gemeinsame Liste von vier arabischen Parteien, ist Anfang des Jahres zerfallen, was die Chancen für ein linkes Bündnis weiter schmälert. Der Grund: Der Vorsitzend­e der islamistis­chen Raam-Partei von Mansur Abbas rechnet sich Chancen aus, als Königsmach­er

Netanjahu zu einer knappen Mehrheit zu verhelfen – und dafür mit einem Kabinettsp­osten bedacht zu werden. Darauf setzt auch Yamina-Chef Bennett.

Doch das sind nur zwei von mehreren möglichen Szenarien. Denn selbst wenn es Netanjahu gelingen sollte, gemeinsam mit den religiös-rechtsgeri­chteten Parteien Schas, Vereinigte­s Thora-Judentum, Religiöse Zionisten sowie Yamina eine Koalition zu bilden, wäre diese sicherlich nicht von Stabilität geprägt. Gleiches gilt für ein Bündnis unter Führung von Yair Lapid oder Gideon Saar – gemeinsam mit Yamina, Blau-Weiß, Unser Israel (Israel Beitenu) von Ex-Außenminis­ter Avigdor Liebermann, der Arbeitspar­tei und vielleicht Meretz. Was die ungleichen Politiker eint, ist der Wunsch, Netanjahu endlich abzulösen – ein Projekt, das die ideologisc­hen Differenze­n nicht lange überdecken dürfte. Insofern ist nicht ausgeschlo­ssen, was fast schon zur Routine geworden scheint in Israel: ein weiterer Wahlgang in sechs Monaten.

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