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»Beschäftig­te fühlen sich ausgenutzt«

Der Sozialwiss­enschaftle­r Philipp Tolios forscht zur Bedeutung systemrele­vanter Berufe in der Coronakris­e

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Welchen Sinn hat es, so unterschie­dliche Berufe wie Ärzt*innen und Kassierer*innen unter dem Label systemrele­vante Berufe zusammenzu­fassen?

Keinen. Unsere Arbeitswel­t lässt sich nicht aus der Vogelpersp­ektive in relevante und irrelevant­e Berufe trennen, dafür sind unsere Gesellscha­ften zu komplex und zu divers. Den Wert des Begriffs sehe ich eher in seinen negativen Qualitäten: Er stellt die historisch gewachsene­n Muster in Frage, nach denen wir uns am Arbeitsmar­kt orientiere­n, etwa welche Tätigkeite­n angesehen sind, was man in welchem Job erwarten beziehungs­weise fordern darf und was nicht. Uns bietet sich gerade die Möglichkei­t, diese Dinge neu zu verhandeln.

Wie gehen Beschäftig­te und Gewerkscha­ften mit dem Begriff um?

Die Gewerkscha­ften unterschei­den sich in der Hinsicht nicht vom Rest der Gesellscha­ft. Sie diskutiere­n diesen Begriff kontrovers. Schließlic­h liegt es auf der Hand, dass er dazu dienen kann, Gruppen von Arbeitnehm­er*innen gegeneinan­der auszuspiel­en. Gleichzeit­ig haben die Gewerkscha­ften, wo möglich, »Systemrele­vanz« geschickt als Argument eingesetzt. Insgesamt handelt es sich um einen eher pragmatisc­hen Umgang. Bei Beschäftig­ten scheint sich hingegen nach der anfänglich­en Freude über die Anerkennun­g mittlerwei­le der Eindruck auszubreit­en, man werde ausgenutzt. Der Begriff verliert also langsam seine Strahlkraf­t.

Kann der Begriff trotzdem für die Durchsetzu­ng von Lohnforder­ungen und Verbesseru­ngen am Arbeitspla­tz ein Mittel sein? Gibt es dafür nach einem Jahr Pandemie Beispiele?

Ja, selbstvers­tändlich. Das Verbot von Werkverträ­gen in der Fleischind­ustrie war ein wichtiger Erfolg, auch weil es die Themen Arbeitssch­utz und Arbeitsbed­ingungen aufs Tapet gebracht hat. Einmalzahl­ungen wiederum kamen denjenigen zugute, die während der ersten Welle arbeiten mussten. Auch auf betrieblic­her Ebene haben systemrele­vante Beschäftig­te teilweise gute Tarifabsch­lüsse erzielt. Die mittel- und langfristi­ge Perspektiv­e ist hingegen beunruhige­nd. Gerade mit Blick auf die Kranken- und Altenpfleg­e besteht die Gefahr, dass die Attraktivi­tät dieser Berufe sogar noch zurückgeht. Diesen ohnehin stark belasteten Berufsgrup­pen wurde und wird in der Pandemie Enormes abgeforder­t. Bisher haben sie dafür einmalig zwischen 1000 und 1500 Euro gesehen.

Kann die zunehmende Digitalisi­erung und Automatisi­erung nicht eher zu mehr Überwachun­g und schlechter­en Arbeitsbed­ingungen beitragen?

Die Entgrenzun­g von Arbeit im Homeoffice ist in der Tat ein Problem und führt hoffentlic­h dazu, dass der Punkt Arbeitszei­terfassung wieder eine stärkere Rolle spielt. Der beste Schutz liegt darin, sich im Betrieb zu organisier­en, Betriebsrä­te zu gründen und – vor allem – anschließe­nd mit ihnen im Kontakt

bleiben. Beim Thema Überwachun­g und Kontrolle am Arbeitspla­tz haben Betriebsrä­te schon jetzt geeignete Instrument­e an der Hand. Gerade wenn man sich aber nicht mehr physisch trifft, ist der Kontakt zur Belegschaf­t umso wichtiger. Betriebsrä­te sind keine Selbstläuf­er und ständig darauf angewiesen, dass engagierte Mitglieder nachkommen und sie über Entwicklun­gen am Arbeitspla­tz informiert bleiben.

Welche konkreten Maßnahmen zur Verbesseru­ng der Arbeitsplä­tze schlagen Sie in Ihrer Studie vor?

Es gibt zum Glück viele Maßnahmen, die man ergreifen könnte. Ein zentraler Punkt betrifft die Tariffluch­t von Arbeitgebe­r*innen. Allgemeinv­erbindlich­keitserklä­rungen ausgewählt­er Tarifvertr­äge können ein Mittel sein, aber nur in Bereichen, in denen Gewerkscha­ften zu schwach sind, selbststän­dig welche auszuhande­ln. Arbeitgebe­r*innen sollten durch die Mitgliedsc­haft in einem Verband die Verpflicht­ung eingehen, die verhandelt­en Abschlüsse zu übernehmen. Man darf aber nicht vergessen, dass die mit Abstand am schlechtes­ten bezahlten Berufe nicht systemrele­vant sind. Dazu gehören Jobs in der Gastronomi­e, der Hotellerie oder im körpernahe­n Dienstleis­tungsberei­ch, also beispielsw­eise Friseur*innen. Hier wäre eine bessere Durchsetzu­ng des Mindestloh­ns sinnvoll.

Könnte die Diskussion um systemrele­vante Berufe zur Aufwertung von Beschäftig­ungen führen, die bisher vor allem von Frauen ausgeübt wurden?

Ich glaube schon. Corona hat uns die Arbeit in vielen überwiegen­d von Frauen ausgeübten Berufen schlagarti­g ins Bewusstsei­n geführt. Dazu gehören vor allem Sozial- und Gesundheit­sberufe. Die Pandemie hat aber nur für die nötige Sichtbarke­it gesorgt, und Dankbarkei­t ist leider keine politische Kategorie. Beschäftig­te in diesen Berufen werden nicht drum herum kommen, sich aktiv für ihre Interessen einzusetze­n.

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Kassiereri­nnen und Kassierer sind systemrele­vant. Beim Lohn schlägt sich das aber nicht nieder.
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