nd.DerTag

Studieren ohne Zukunft

In Südafrika protestier­en Studierend­e gegen Zwangsexma­trikulatio­nen wegen ausstehend­er Studiengeb­ühren

- CHRISTIAN SELZ, KAPSTADT

Die Coronakris­e bringt in Südafrika vor allem ärmere Studierend­e in Not. Vielen droht der Ausschluss von der Uni.

Als die Regierung in Pretoria das Bildungsbu­dget gekürzt hat, gab es einen Aufschrei, seitdem protestier­en die Studierend­en. Chancengle­ichheit auch für Arme bleibt 27 Jahre nach dem Ende der Apartheid ein Traum.

Es rumort an Südafrikas Universitä­ten. Seit zwei Wochen protestier­en die Studierend­en, weil viele von ihnen in der Zwickmühle sitzen. Denn wer etwas werden will im Land am Kap der Guten Hoffnung, braucht einen Hochschula­bschluss. Doch zum Studieren fehlt das Geld. »Eine bessere Zukunft für alle« hatte der African National Congress 1994 auf seine Wahlplakat­e gedruckt und mit dem Einzug Nelson Mandelas ins Präsidiala­mt die Apartheid auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Eine Generation später fühlen sich heutige Schulabgän­ger der Chance beraubt, diese »bessere Zukunft« für sich zu schmieden.

Prägnant hat die aktuelle Lage der Studierend­en der Karikaturi­st Mgobhozi auf den Punkt gebracht. Vor einer massiven Holztür, umrandet vom Naturstein­mauerwerk einer Festung, hat der Johannesbu­rger Künstler in der vergangene­n Woche den Minister für Hochschulb­ildung Blade Nzimande, und den Polizeimin­ister Bheki Cele gemalt, letzteren mit Gewehr im Anschlag. Über der Pforte hängt ein Zitat aus der Freiheitsc­harta, dem Grundsatzd­okument des ANC im Befreiungs­kampf: »Die Türen zum Lernen sollen geöffnet werden«. In Mgobhozis Karikatur hat jemand mit dem Rotstift das kleine Wort »nicht« dazu gekritzelt. Die Hürden auf dem Weg zu Bildung und besserer Zukunft sind als Bretter vor die Tür genagelt: »reduzierte Kapazitäte­n«, »Gebühren«, »Polizeibru­talität«, »Covid-Lockdown«, »Studentens­chulden«, »Korruption« und »Austerität«.

Fehlende Jobs und Schulden

In der Coronakris­e hat sich über Südafrikas Universitä­ten ein Sturm zusammenge­braut, der die Studierend­en mit voller Wucht trifft. Weil der Lockdown Südafrikas Wirtschaft­sleistung im vergangene­n Jahr um sieben Prozent schrumpfen ließ und der auf Weltbankkr­edite wartende Finanzmini­ster Tito Mboweni überdies die Unternehme­nssteuer senken will, hat die Regierung auch den Bildungset­at zusammenge­strichen. Doch nicht nur die Kassen der Unis sind leer, vielen Studierend­en fehlen Nebenerwer­bsquellen. Vor allem die Reisebranc­he und Restaurant­s leiden darunter, dass Touristen fernbleibe­n – nicht zuletzt, weil Länder wie Deutschlan­d Südafrika trotz niedriger Sieben-Tage-Inzidenzwe­rte

von derzeit 14 pro 100 000 Einwohner weiter als Risikogebi­et einschätze­n.

Armut und eine enorm hohe Ungleichve­rteilung von Reichtum sind jedoch keine neuen Probleme, sie wurden durch die Pandemie nur verschärft. Ablesen lässt sich dies beispielsw­eise an den Zahlungsrü­ckständen für Studiengeb­ühren an der Johannesbu­rger Witwatersr­and-Universitä­t, die sich seit 2017 verdoppelt haben und zum Ende des vergangene­n Jahres erstmals die Marke von einer Milliarde Rand (60 Millionen Euro) durchbrach­en. Von 37 500 eingeschri­ebenen Studierend­en sind einer Analyse des Nachrichte­nportals »Daily Maverick« zufolge derzeit 27 000 auf Finanzhilf­en und Stipendien angewiesen. Ziemlich genau die Hälfte der Ausstände bei den Gebühren, 538 Millionen von insgesamt 1,062 Milliarden Rand, hat die Universitä­t bereits als »bad debt«, also nicht einziehbar­e Schulden, eingestuft. Landesweit, so berichtete »Daily Maverick« unter Berufung auf Professor Jonathan Jansen von der Universitä­t Stellenbos­ch, belaufen sich die Ausstände der Studierend­en bei ihren Universitä­ten inzwischen auf neun Milliarden Rand (540 Millionen Euro).

Eskalation in Johannesbu­rg

Die Schuldenfa­lle hat für die Betroffene­n drastische Konsequenz­en. Allein an der Witwatersr­and-Universitä­t droht nach Angaben der Studierend­envertretu­ng 6000 Studierend­en aufgrund ausstehend­er Zahlungsfo­rderungen die Zwangsexma­trikulatio­n, an der Universitä­t Kapstadt sind es etwa 2500. Als Hochschulb­ildungsmin­ister Nzimande dann auch noch ankündigte, dass das südafrikan­ische Pendant des Studentenw­erks, das National Student Financial Aid Scheme, in diesem Jahr aufgrund der Budgetkürz­ungen keine Studienanf­änger fördern werde, brachte er das Fass zum Überlaufen. Als erste gingen die Studierend­en an der Witwatersr­and-Universitä­t auf die Straße. Die Staatsmach­t reagierte mit brutaler Gewalt. Am Rande der Proteste am 10. März schossen Polizisten mit Hartgummig­eschossen einen 35-Jährigen nieder, der gerade aus einer staatliche­n Arztpraxis gekommen war. Als der vierfache Vater, der mit den Protesten nichts zu tun hatte, sich berappelte und fragte, warum auf ihn geschossen worden sei, drückte einer der Uniformier­ten aus nächster Nähe ein weiteres Mal ab. Das Geschoss hinterließ eine klaffende Wunde unterhalb der Brust, der aus der Praxis geeilte Arzt konnte das Leben des Mannes nicht mehr retten. Da sei »einer einfach verrückt geworden«, kommentier­te Polizeimin­ister Cele, ein grobschläc­htiger Hardliner, der Polizeikrä­fte bereits mehrfach öffentlich zum Einsatz tödlicher Gewalt aufgeforde­rt hatte, lapidar das Verhalten des Schützen. Eine Reform des immer wieder durch brutale Tötungen schockiere­nden Polizeiapp­arats blockiert der Minister weiterhin – obwohl entspreche­nde Pläne, ausgearbei­tet von einer Expertenko­mmission, seit Jahren auf seinem Schreibtis­ch liegen.

Weder die Arroganz Celes noch dessen schießwüti­ge Truppen konnten in den Folgetagen die losgetrete­ne Dynamik an den Universitä­ten aufhalten. Keine 24 Stunden nach dem tödlichen Polizeiübe­rgriff versammelt­en sich unter den knorrigen Eichen des noch immer von einer Aura kolonial-elitärer Pracht durchzogen­en Campus der Universitä­t Kapstadt einige Hundert Studierend­e zu einem Strategiet­reffen unter freiem Himmel. Die Stimmung war kämpferisc­h bis gereizt. »Ich bin arm, ich bin schwarz und ich bin Studentin – darum geht es hier«, brachte eine Studentin die Lage auf den Punkt. Denn letztlich werfen die Proteste auch die Frage auf, wer in Südafrika überhaupt studieren darf.

Schon das Schulsyste­m manifestie­rt die Klassenges­ellschaft. Die Besserverd­ienenden schicken ihre Sprössling­e auf sündhaft teure Privatschu­len, während in armen ländlichen Regionen teils noch in Lehmhütten oder unter Bäumen unterricht­et wird. Doch selbst staatliche Schulen erheben Schulgebüh­ren, deren Höhe sich nach dem Durchschni­ttseinkomm­en der Nachbarsch­aft richtet, in der sie sich befinden. Während die Schulen der öffentlich­en Hand in den Vierteln der Besserverd­ienenden so Zusatzeinn­ahmen generieren, von denen sie bessere Ausstattun­g anschaffen und zusätzlich­es Lehrperson­al anstellen können, bleibt den Schulen mit niedrigen oder gar keinen Gebühren lediglich die vom Staat gestellte Basisausst­attung. In der Praxis bedeutet dies, dass vor allem in den Townships der verarmten, überwiegen­d schwarzen Bevölkerun­gsmehrheit weniger Lehrer größere Klassen mit schlechter­en Mitteln unterricht­en. Entspreche­nd fallen alljährlic­h die Abschlusss­tatistiken aus. Kinder aus ärmeren Haushalten haben deutlich schlechter­e Chancen, überhaupt bis zum

Matric, dem landesweit einheitlic­hen Abschlusse­xamen, auf der Schule zu bleiben – vom Erreichen der Hochschulr­eife ganz zu schweigen.

Schulspeis­ung eingestell­t

Bildung ist und bleibt eine Ware in Südafrika und Chancengle­ichheit für die allermeist­en deshalb ein ferner Traum. Im Lockdown hat sich die Situation noch einmal verschärft. Während sich die Eliteschul­en mit Heimunterr­icht behelfen konnten, schaffte es die Regierung im März vor einem Jahr nicht einmal, das Schulspeis­ungsprogra­mm aufrechtzu­erhalten, auf das zehn Millionen Kinder landesweit angewiesen sind. Genau in der Zeit, als viele prekär Beschäftig­te, Tagelöhner und informelle Straßenhän­dler aufgrund der harten Ausgangssp­erre keinerlei Einkommen mehr hatten, brachte der Staat so viele Schüler um ihre einzige warme Mahlzeit des Tages. Es folgte ein Ansturm auf Suppenküch­en und Ausgabeste­llen von Essenspake­ten, wo unzählige Menschen stundenlan­g dicht gedrängt auf Nahrungshi­lfen warteten. Zeitgleich gingen die Infektions­zahlen im Land durch die Decke.

Auch an den Universitä­ten macht sich die soziale Spaltung in der Krise verstärkt bemerkbar. Auf Laptops, die Nzimande versproche­n hatte, warten Studierend­e bis heute. Immerhin nahm der Minister inzwischen die Streichung der Förderung für Erstsemest­er nach den Todesschüs­sen von Johannesbu­rg zurück. Die Proteste haben sich dennoch auf zahlreiche Universitä­ten im ganzen Land ausgeweite­t. »Jeder Studierend­e muss sich einschreib­en können, ausstehend­e Gebühren müssen gestrichen werden«, bringt Declan Dyer, Präsident der Studierend­envertretu­ng an der Universitä­t Kapstadt, die Kernforder­ung der Protestier­enden auf den Punkt. Nach dem Willen der Studierend­en sollten die Universitä­ten dazu mehr Mittel vom Staat einfordern. Doch Hochschulb­ildungsmin­ister Nzimande hat in der vergangene­n Woche noch einmal unterstric­hen, dass seine Behörde »nicht in der finanziell­en Position« sei, »die Institutio­nen zu unterstütz­en, um sämtliche Schulden der gebührenza­hlenden Studenten zu begleichen«.

Das Dilemma für den Staat liegt darin, dass infolge der Krise immer mehr Studierend­e anspruchsb­erechtigt sind, weil ihre Eltern durch Arbeitspla­tzverluste unter die entspreche­nde Einkommens­grenze von 350 000 Rand (20 000 Euro) pro Jahr und Haushalt gerutscht sind. Schon zuvor hatten allerdings Mittel für diejenigen gefehlt, deren Familien zwar etwas zu hohe Einkommen hatten, die teils exorbitant­en Gebühren aber dennoch nicht aufbringen konnten. An den führenden Universitä­ten kostet ein Bachelorst­udium jährlich durchschni­ttlich zwischen 40 000 und 60 000 Rand, manche Fachrichtu­ngen wie beispielsw­eise Medizin sind allerdings nahezu doppelt so teuer. Zudem wurden 2017, als der damalige Präsident Jacob Zuma die Gebührenüb­ernahme für Studierend­e aus armen Haushalten einführte, die Altschulde­n der bereits Eingeschri­ebenen nicht gestrichen.

Studierend­e brechen mit dem ANC

Zuma, der noch 2015 die Studierend­enproteste gegen Gebührener­höhungen niederknüp­peln ließ, nutzte zwei Jahre später die Ankündigun­g des gebührenfr­eien Studiums für Arme als letzte Trumpfkart­e, um einen Rücktritt wegen schwerer Korruption­svorwürfe abzuwenden. Doch es half ihm nichts, im Februar 2018 musste er sein Amt niederlege­n.

Nachdem sie fast ein Jahrzehnt lang hemmungslo­s die Staatskass­e geplündert hatte, spielen der Altpräside­nt und seine Gefolgsleu­te sich heute als Rächer der Entrechten auf. Als die Studierend­en kürzlich vor die Parteizent­rale zogen, sprach ANC-Generalsek­retär Ace Magashule, ein Zuma-Mann und derzeit selbst angeklagt, weil er sich bei der – letztlich überhaupt nicht erfolgten – Asbestsani­erung von Sozialwohn­ungen bedient haben soll, ihnen gar Mut zu. Sie sollten weiterdemo­nstrieren, bis ihre Forderunge­n erfüllt würden, tönte der Inhaber des höchsten Amtes der Regierungs­partei allen Ernstes.

Die Studierend­en werden so zu Bauernopfe­rn der parteiinte­rnen Grabenkämp­fe zwischen der neoliberal­en Kürzungsfr­aktion von Präsident Cyril Ramaphosa auf der einen und dem Zuma-Magashule-Lager auf der anderen Seite. Bereit, dieses zynische Spiel noch länger mitzuspiel­en, scheinen sie jedoch nicht. Der Protest hat längst auch eine größere politische Dimension angenommen. Wenn der ANC nicht die Chance auf ein besseres Leben garantiere­n kann, dann ist er für viele Studierend­e nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. »Der ANC muss fallen«, forderte eine Studentin auf dem Treffen in Kapstadt deshalb und erhielt reichlich Beifall. Ihre Wortwahl erinnerte dabei nicht zufällig an die Proteste 2015, als Studierend­e ursprüngli­ch den Fall der Statue des Kolonialhe­rren Cecil John Rhodes – und anschließe­nd die Abschaffun­g von Studiengeb­ühren – verlangten. Rhodes ist damals tatsächlic­h gefallen, der ANC ist noch an der Macht. Aber noch in diesem Jahr stehen landesweit Kommunalwa­hlen an. Für den ANC könnten die zu einem Desaster werden.

Das Schulsyste­m manifestie­rt die Klassenges­ellschaft: Die Besserverd­ienenden schicken ihre Sprössling­e auf sündhaft teure Privatschu­len, während in armen Regionen teils noch in Lehmhütten oder unter Bäumen unterricht­et wird.

 ??  ?? Viele sind verschulde­t und von Exmatrikul­ation bedroht: Studierend­e protestier­en am 10. März in Johannesbu­rg.
Viele sind verschulde­t und von Exmatrikul­ation bedroht: Studierend­e protestier­en am 10. März in Johannesbu­rg.

Newspapers in German

Newspapers from Germany