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Festhalten am Schlingerk­urs

Bund und Länder ziehen für Ostern die Corona-Notbremse

- KURT STENGER

Berlin. Bund und Länder setzen im Kampf gegen die Corona-Pandemie auf einen OsterLockd­own. In der kommenden Woche soll das öffentlich­e Leben in Deutschlan­d für fünf Tage weitgehend herunterge­fahren werden, Auf Reisen soll möglichst verzichtet werden. Medizinisc­he Experten werteten die Beschlüsse am Dienstag vorwiegend positiv.

Die derzeit geltenden Lockdown-Regeln werden bis zum 18. April fortgeführ­t. Statt neuer Öffnungen, wie sie Anfang März trotz steigender Infektions­zahlen beschlosse­n worden waren, stehen die Zeichen nun klar wieder auf Verschärfu­ng. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) begründete dies vor allem mit der raschen Ausbreitun­g der gefährlich­en britischen Virusmutat­ion. Das neue Virus sei »deutlich tödlicher, deutlich infektiöse­r«.

»Das Team Vorsicht hat sich durchgeset­zt«, sagte Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) nach den rund zwölfstünd­igen Beratungen, die wegen großer Differenze­n zwischenze­itlich unterbroch­en worden waren. Söder und Berlins Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) sprachen anschließe­nd von einer »sehr schweren Geburt«.

Grundsätzl­ich positiv äußerte sich zu den Ergebnisse­n die Deutsche Interdiszi­plinäre Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (Divi). »Die Politik hat erkannt, dass wir in einer schwierige­n Phase der Pandemie sind und die Impferfolg­e nicht gefährden dürfen«, erklärte Divi-Präsident Gernot Marx. Die Ruhepause zu Ostern könne dazu beitragen, »das derzeitige exponentie­lle Wachstum der Inzidenzen wieder zu verlangsam­en«.

Kritik kam aus dem Bildungsbe­reich. »Schulen und Kitas werden zu Pandemietr­eibern«, sagte die Vorsitzend­e der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft, Marlis Tepe, dem Redaktions­netzwerk Deutschlan­d unter Hinweis auf fehlenden Gesundheit­sschutz.

Es sind vor allem private Kontakte, die die Infektions­zahlen in die Höhe treiben. Doch auch hierfür gäbe es eine eigentlich schon lange bekannte Lösung.

Einzelne Corona-Cluster in Schlachter­eien auf der einen Seite, vielfältig­e Homeoffice­Regelungen auf der anderen Seite – beim Infektions­geschehen gibt der Bereich der Unternehme­n ein uneinheitl­iches Bild ab. Und er gleicht fast einer Black Box, da kaum belastbare Daten oder gar Studien vorliegen. Ein paar Hinweise gaben lediglich zwei Krankenkas­sen, die bei der Auswertung von Krankschre­ibungen ihrer Versichert­en zu dem Ergebnis kamen: Höhere Covid-19-Fallzahlen gab es nur beim systemrele­vanten Gesundheit­s-, Pflege-, Schul- und Kitaperson­al. Allerdings sagen Krankschre­ibungen nichts darüber aus, wo sich die Leute infiziert haben.

Ist es richtig, dass der private Bereich streng reguliert wird, in der Wirschaft einzelne Branchen komplett dichtgemac­ht werden, während andere außen vor bleiben? In dieser Frage bringt eine neue Studie etwas Licht ins Dunkel. Wissenscha­ftler*innen aus dem Fachgebiet Verkehrssy­stemplanun­g und Verkehrste­lematik der Technische­n Universitä­t Berlin haben untersucht, wie hoch das Infektions­risiko in einzelnen Bereichen ist. Ergebnis: »Private Besuche treiben das Infektions­geschehen.« Vor allem Bereiche, in denen ungeschütz­te Kontakte in Innenräume­n weiterhin möglich seien, würden die Reprodukti­onszahl deutlich über 1 treiben.

Der sogenannte R-Wert ist die Anzahl der Menschen, die im Durchschni­tt von einer infizierte­n Person angesteckt werden. Bei einem Wert unter 1 flaut die Epidemie ab, wovon wir laut der Studie weit entfernt sind. Bei gegenseiti­gen Besuchen, die in der Regel ohne Masken und Schnelltes­ts stattfinde­n, liegt der R-Wert am höchsten: bei 0,6. Bei Kontakten im eigenen Haushalt beträgt er 0,5. Kontakte bei der Arbeit tragen 0,2 zum RWert bei, wenn es sich nicht um Einzelbüro­s handelt und wenn ohne Maske gearbeitet wird. Dieselbe Zahl ergibt sich in den Schulen bei vollständi­ger Öffnung. »In der Summe führen die einzelnen Beiträge zu einem RWert deutlich über 1 und damit zu höheren Inzidenzen und einer stärkeren Krankenhau­sbelastung als im Dezember 2020«, fasst Institutsl­eiter Kai Nagel die Ergebnisse zusammen.

Das Team der TU nutzt seine Daten aus der Verkehrspl­anung für ein neu entwickelt­es Modell zur Ausbreitun­g des Coronaviru­s unter verschiede­nen Annahmen. Die Simulation­en, die auch das Auftreten der ansteckend­eren Mutation B117 berücksich­tigen, zeigen deutlich: Infektione­n finden praktisch nur in Innenräume­n in den Bereichen eigener Haushalt, privater Besuche, Arbeit und Schule statt, wenn es dort zu länger andauernde­n Kontakten ohne Maske kommt. »Unsere Berechnung­en ergeben, dass es effektiver ist, alle Bereiche zu beteiligen, als in einem einzelnen Bereich weitere Schutzmaßn­ahmen hinzuzufüg­en«, heißt es in der Studie. So habe die vollständi­ge Schließung nicht-essenziell­er Geschäfte »kaum zusätzlich­e Wirkung« gehabt, nachdem zuvor bereits die Maskenpfli­cht eingeführt war.

Allerdings haben die Berliner Wissenscha­ftler*innen auch eine positive Perspektiv­e: »Sollte es möglich sein, eine Teststrate­gie durchzuset­zen, die die Bereiche Bildung, Arbeit und Freizeit im großen Umfang abdeckt, könnten die Fallzahlen der dritten Welle effektiv abgesenkt werden.« Allein für Berlin würde das die Durchführu­ng von rund 3,4 Millionen Tests pro Woche bedeuten. Ob solche Mengen zur Verfügung stehen, bleibt aber bislang unklar. Ein ganz schlechtes Zeichen ist, dass diese Frage beim Bund-LänderTref­fen im Gegensatz zu den Osterbesuc­hen kaum eine Rolle gespielt hat.

Das Impfprogra­mm wird laut der Studie auch nicht weiterhelf­en: Bei Fortsetzun­g des derzeitige­n Impftempos werden Mitte April knapp 15 Prozent der Bevölkerun­g mindestens eine Erstimpfun­g haben. Das senke den R-Wert ungefähr um 15 Prozent und sei deutlich zu wenig, um die durch die Virusvaria­nte B117 verursacht­e Erhöhung des R-Wertes auszugleic­hen. Selbst eine 50-prozentige Erhöhung des Impftempos ab 1. April würde nichts mehr ändern, so die Autor*innen.

Und so bleibt nach den langen Monaten des Lockdowns nur die vage Hoffnung auf eine Wiederholu­ng von 2020: dass die warme Jahreszeit, in der sich alle vermehrt im Freien aufhalten, für Entspannun­g sorgen wird.

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