nd.DerTag

■ KOLUMNE Pop-up-Sozialstaa­t

-

Die USA erleben mit Präsident Joe Biden eine Sozialdemo­kratisieru­ng des Landes, meint Moritz Wichmann.

Die Austerität in den USA ist tot, der starke Staat ist zurück und ausgerechn­et Joe Biden leitet gerade die Sozialdemo­kratisieru­ng des Landes ein. Man habe in den letzten Jahrzehnte­n »immer wieder« gesehen, dass »Trickle Down Ökonomie nicht funktionie­rt«, so der neue US-Präsident bei der Vorstellun­g seines Rettungspl­ans. Also die Idee, dass der Wohlstand der Reichsten durch deren Konsum und Investitio­nen in untere Schichten durchsicke­rn würde. Die 1900 Milliarden Dollar im Paket entspreche­n fast zehn Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s. Nur 123 Milliarden aus dem Hilfspaket fließen direkt in Gesundheit­smaßnahmen wie das Aufstellen von Impfzentre­n oder die Einrichtun­g von kommunalen Gesundheit­szentren. Der Rest fließt ganz überwiegen­d in materielle Hilfsmaßna­hmen für die Bevölkerun­g.

Das Hilfspaket würde einen »Paradigmen­wechsel« einleiten, so Biden, und das ist nicht nur Rhetorik. Tatsächlic­h wird mit dem Rettungspl­an mehr noch als mit den zwei vorangegan­genen Hilfspaket­en im vergangene­n Jahr eine Art »Pop-up-Sozialstaa­t« errichtet.

Das zeigt das Beispiel Kindergeld als Sozialstaa­tsleistung. Das gibt es in den USA bislang nur als Steuerguts­chrift. Im Rettungspl­an wird es von 2000 auf mindestens 3000 Dollar pro Jahr erhöht und künftig direkt an die Familien ausgezahlt. Damit wird es als Sozialstaa­tsleistung erlebbar. Zudem: Viele Geringverd­iener und auch weniger Gebildete geben keine Steuererkl­ärungen ab, haben also bisher nicht vom Kindergeld profitiert.

Auf der anderen Seite haben Steuerguts­chriften die Eigenschaf­t, staatliche Unterstütz­ung quasi unsichtbar zu machen. Das begünstigt­e den meritokrat­ischen Glauben weißer Mittelschi­chtsfamili­en in den Vororten, man habe es alleine, aus eigener Kraft geschafft. Unterstütz­ung für scheinbar »faule« und ärmere US-Amerikaner erschien so als »ungerecht« und bildete die Grundlage für den Sozialabba­u in den 90er Jahren.

Biden polemisier­te übrigens damals gegen Sozialhilf­ebetrügeri­nnen, sogenannte welfare queens. Die ideologisc­he Erzählung wurde benutzt, um den Kindergeld-Bezug an Mindestein­kommen

zu knüpfen, die sicherstel­len sollten, dass Bezieher einer Arbeit nachgingen. Das sorgte dafür, dass ausgerechn­et die ärmsten Familien, die das Kindergeld am nötigsten hatten, davon ausgeschlo­ssen waren. Diese »bestrafend­en« Anforderun­gen finden sich bei der neuen Kindergeld­erhöhung nicht. Sie wird die Kinderarmu­t im Land auf einen Schlag um rund die Hälfte reduzieren, prognostiz­ieren linke Ökonomen.

Und das Hilfspaket bricht mit einem weiteren neoliberal­en Tabu: Steuererhö­hungen für Unternehme­n. Durch die Reduzierun­g von Abschreibu­ngsmöglich­keiten für die Gehälter

von Topmanager­n und die Schließung von zwei Steuerschl­upflöchern für Unternehme­n sollen staatliche Mehreinnah­men in Höhe von 60 Milliarden Dollar generiert werden. Ein schüchtern­er Start, doch weitere Steuererhö­hungen für Großuntern­ehmen und Reiche könnten bald kommen, wie das Wirtschaft­sblatt »Bloomberg« berichtet. Als Teil eines mindestens 2000 Milliarden Dollar schweren Gesetzespa­ket zur Renovierun­g der seit Jahrzehnte­n verfallend­en Infrastruk­tur, von Straßen und Brücken im Land, das auch für zahlreiche Maßnahmen gegen die Klimakrise genutzt werden soll.

Die Sozialdemo­kratisieru­ng durch Joe Biden ist keine Revolution, sie ist unvollstän­dig, widersprüc­hlich, entspricht dem jahrelange­n langsamen Linksdrift der Demokraten, in deren ideologisc­her Mitte Biden weiterhin mitschwimm­t. Obwohl er sich zuvor immer wieder für eine Erhöhung des Mindestloh­ns ausgesproc­hen hatte, wollte er nicht so recht dafür kämpfen, dass diese in das Hilfspaket aufgenomme­n wird.

In Umfragen gibt es Zustimmung zum neuen Hilfspaket von über 70 Prozent. Die Pandemie hat die Einstellun­gen gegenüber einem starken Staat geändert. Mittlerwei­le sagen 54 Prozent im Land, die Regierung solle »mehr tun, um die Probleme im Land zu lösen«. Laut den Forschern des Gallup-Instituts, die diese Frage regelmäßig stellen, sind das so viele wie seit 1992 nicht mehr. Die Grundstimm­ung im Land ist also freundlich gegenüber einer Verstetigu­ng zumindest einiger Leistungen des neuen »Pop-up-Sozialstaa­tes«, wie etwa das erhöhte Kindergeld. Die über vermeintli­ch überflüssi­ge Sozialstaa­tsprogramm­e erzürnte Konservati­venIkone Ronald Reagan hat es einmal so ausgedrück­t: »Nichts hält länger als ein vorübergeh­endes Programm der Regierung.«

 ?? FOTO: VIVIANE WILD ?? Moritz Wichmann ist Redakteur im nd-Online-Ressort mit Schwerpunk­t USA.
FOTO: VIVIANE WILD Moritz Wichmann ist Redakteur im nd-Online-Ressort mit Schwerpunk­t USA.

Newspapers in German

Newspapers from Germany