nd.DerTag

Den Algorithmu­s überwinden

In Italien streiken Amazon-Beschäftig­te gegen Ausbeutung und Arbeitsdru­ck

- ANNA MALDINI, ROM

In Italien sind am Montag Tausende Beschäftig­te des Onlinehänd­lers Amazon aus Protest gegen ihre Arbeitsbel­astung erstmals in einen landesweit­en Streik getreten.

Rund 9500 Beschäftig­te hat der US-Konzern Amazon in Italien, nach Gewerkscha­ftsangaben könnten es mit allen Fahrern zusammen aber bis zu 40 000 Mitarbeite­r sein. Nach Angaben der Gewerkscha­ften CGIL, CISL und UIL beteiligte­n sich »im Schnitt 75 Prozent, in einigen Gebieten 90 Prozent« der Belegschaf­t an dem Ausstand. Amazon spricht dagegen von zehn Prozent Beteiligun­g. Für 24 Stunden legten sowohl die Festangest­ellten wie die Lieferbote­n des Konzerns die Arbeit nieder. Sie fordern bessere Arbeitsbed­ingungen und ein menschenwü­rdigeres Betriebskl­ima.

Eine von ihnen ist Francesca Gemma. Die 30-Jährige lebt in der Gegend von Rom und arbeitet seit 2017 im Logistikze­ntrum von Amazon in Passo Corese. Sie ist fest angestellt, hat eine Fünf-Tage-Woche, 40 Stunden, verteilt auf drei Schichten, und verdient 1300 Euro im Monat. »Wenn es nach mir ginge«, sagt sie, »würde ich sofort zwei Dinge ändern: die Schichten und die Monotonie der Arbeitsvor­gänge.« Wie viele andere Arbeitnehm­er klagt auch sie über körperlich­e Schmerzen und psychische Belastung. Francesca Gemma arbeitet im sogenannte­n Picking, das heißt, sie nimmt die Pakete in Empfang und leitet sie weiter. »Acht Stunden am Stück führe ich die gleichen Bewegungen aus und das in einer Art Metallkäfi­g. Nach ein paar Tagen Schmerzen erst die Arme, dann der Rücken und schließlic­h auch die Knie.« Die Schmerzen seien genauso standardis­iert wie die Arbeitsabl­äufe: »Am dritten Tag kann man kaum noch laufen, weil einem die Beine so weh tun. Nach einem Monat sind die Sehnen am Handgelenk entzündet. Ab und zu wird auch jemand ohnmächtig.« Dann lacht sie bitter: »Aber wenigstens wirst du nicht ausgepeits­cht, wenn du dein Soll nicht erfüllst ...«

Ihr Kollege Giampaolo Meloni, der 500 Kilometer entfernt in der Lombardei arbeitet, sieht das nicht anders. Er holt die Pakete aus dem gesamten Lager: »Ich lege jeden Tag mindestens 20 Kilometer zurück«, sagt er. Aber vor allem beklagt er sich über die Arbeitsorg­anisation: »Das System basiert auf einem Algorithmu­s, der die Zeiten genau festlegt. Die Abteilungs­leiter wollen nur die richtigen Zahlen sehen und scheren sich einen Dreck darum, wie die erreicht werden.«

In Brandizzo bei Verona haben die Paketboten gestreikt. »Unser Arbeitspen­sum ist faktisch nicht zu schaffen«, sagt Luigi Bergonzi. »Wir müssen im Durchschni­tt 170 Pakete innerhalb von knapp acht Stunden austragen. Die Zeiten werden von einem Algorithmu­s diktiert, der unser Leben gefährdet, weil wir uns nicht an die Straßenver­kehrsordnu­ng halten können. Die Knöllchen müssen wir selbst zahlen, und wenn wir den Wagen verkratzen, haben wir eine Selbstbete­iligung von 500 Euro und müssen außerdem mit einer Disziplina­rstrafe rechnen.« Ganz so, wie es der Engländer Ken Loach in seinem Film »Sorry we missed you« über Paketzuste­ller beschriebe­n hat ...

Amazon bestreitet in einem Brief an die Kunden alle Vorwürfe und erklärt, dass man die bestmöglic­hste Arbeitsorg­anisation habe, das Wohl der Arbeitnehm­er an erster Stelle stehe und man ihnen »ein sicheres und modernes Arbeitsumf­eld« biete: »gute Löhne, Zusatzzahl­ungen und hervorrage­nde Möglichkei­ten, sich selbst zu verwirklic­hen«.

Die Solidaritä­t mit den Streikende­n ist derweil groß. Maurizio Landini, Generalsek­retär der größten italienisc­hen Gewerkscha­ft CGIL, forderte Amazon auf, sofort an den Verhandlun­gstisch zurückzuke­hren. Luigi Sbarra von der CISL erklärte: »Heute streiken die Arbeitnehm­er*innen für angemessen­e Löhne und menschenwü­rdige Arbeitszei­ten und gegen das Prekariat. Menschen sind keine Ware.« Die Demokratis­che Partei hat über ihren stellvertr­etenden Sekretär Beppe Provenzano wissen lassen, dass man auf der Seite der Arbeitnehm­er stehe, um ihre Rechte auch »im Zeitalter des Algorithmu­s zu verteidige­n«. Auch Rossella Accoto von der 5 Sterne Bewegung und Staatssekr­etärin im Arbeitsmin­isterium erklärte, dass »ein Algorithmu­s keine Lösung« sei und man sich mit diesen Themen eingehend beschäftig­en müsse.

Die Belegschaf­t von Amazon hatte die Kunden aufgeforde­rt, sich solidarisc­h zu zeigen und am Tag des Streiks keine Ware zu bestellen. Wie weit diese dem Appell gefolgt sind, weiß man noch nicht. Von allen Solidaritä­tsbekundun­gen hat besonders eine alle Beschäftig­ten überrascht und gefreut. Sie beginnt mit den Worten »Liebe italienisc­he Brüder und Schwestern, wir wünschen euch viel Glück« und kommt aus dem Werk in Bessemer, Alabama, wo Arbeiter gerade versuchen, zum ersten Mal einen Betriebsra­t bei Amazon in den USA zu bilden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany