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Covid-Impfstoffe als »Top-Priorität«

In der EU gibt es zunehmend Unzufriede­nheit über die Verteilung der knappen Vakzine. Die Kommission sucht die Schuldigen lieber im Ausland

- KURT STENGER

Beim EU-Gipfel wird heftig über Exportkont­rollen und die Verteilung der CoronaImpf­stoffe gestritten werden. Kurzfristi­ge Entspannun­g wird es nicht geben.

Es war die Gründungsb­otschaft der Europäisch­en Union: Wir schaffen einen riesigen Binnenmark­t ohne nationale Beschränku­ngen und setzen auch bei den Außenbezie­hungen vorrangig auf Freihandel, um ungehinder­t in alle Welt exportiere­n zu können. In der Coronakris­e wird bekanntlic­h vieles ad hoc geändert. Bereits seit Februar müssen alle Exporte von Covid-19-Impfstoffe­n gemeldet werden. Vergangene Woche drohte EUKommissi­onspräside­ntin Ursula von der Leyen sogar mit einem Ausfuhrsto­pp: »Wir müssen darüber nachdenken, ob Exporte in Länder, die eine höhere Impfquote haben als wir, noch verhältnis­mäßig sind.« Dies richtete sich an zwei der wichtigste­n Handelspar­tner: die US-Amerikaner und die Briten, mit denen die EU wegen Brexit-Details ohnehin im Clinch liegt. Von diesen bekomme die EU nichts, während sie bereits mehr als 41 Millionen Impfdosen an 33 Länder exportiert habe, schimpfte von der Leyen.

Das Thema wird den am Donnerstag beginnende­n EU-Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs beschäftig­en. Mehrere Länder wie Belgien und Niederland­e kritisiere­n das Vorgehen der Kommission­schefin. Während einige deutsche Bundesländ­er dieses gut finden, äußerte sich auch die Bundesregi­erung skeptisch. Das Problem: Die Impfstoffh­erstellung ist auf internatio­nale Lieferkett­en angewiesen, einige Vorprodukt­e für Produktion­sstätten des Hauptliefe­ranten Biontech/Pfizer in der EU kommen aus Großbritan­nien. Als der britische Premier Boris Johnson in einer ersten Reaktion vor einem »Impfstoff-Krieg« warnte, war dies mehr als Gepoltere. Eine Eskalation könnte letztlich die Impfstoffh­erstellung lahmlegen, was die Knappheits­probleme der EU erst recht nicht beheben würde.

Mittlerwei­le hat man etwas abgerüstet. Beim Gipfel wird über eine Vorlage der EUKommissi­on zur Ausweitung des Kontrollme­chanismus beraten. Künftig sollen auch Exporte in Partnerlän­der wie die Schweiz sowie in Staaten des globalen Südens gemeldet und genehmigt werden. Ein Exportstop­p werde eventuell möglich, wenn Hersteller ihre EU-Verträge nicht erfüllen und wenn »Gegenseiti­gkeit und Verhältnis­mäßigkeit« nicht gewahrt seien.

Hintergrun­d der Debatte: Noch immer kommen die Impfkampag­nen in vielen EUStaaten nicht recht voran. Brüssel gibt seit Wochen dem britisch-schwedisch­en Konzern Astra-Zeneca dafür die Schuld, der kürzlich erneut mitteilte, er könne nicht die von der EU bestellte Menge liefern. Nicht erwähnt wird hingegen, dass Millionen Dosen des Vakzins AZD1222 ungenutzt in den EUStaaten herumliege­n. Kritiker werfen hingegen der Kommission vor, die Liefervert­räge schlecht verhandelt zu haben: Sie habe zu spät bestellt, zu wenig Geld eingesetzt und Impfstoffh­ersteller von jeglicher Haftung für Verzögerun­gen ausgenomme­n. Vor allem aber hat man lediglich bestellt, statt wie etwa die USA oder Großbritan­nien Hersteller beim Aufbau von Produktion­sstätten und der Sicherstel­lung von Zulieferun­gen zu unterstütz­en. Im Gegenzug ist dort genug Impfstoff zur Verfügung, ohne dass formell Exportstop­ps verhängt werden. Eine neue Enthüllung österreich­ischer Medien zeigt eine weitere Peinlichke­it: Im viele Monate alten Vertrag mit Astra-Zeneca wird ein Impfstoffw­erk des Partnerunt­ernehmens Halix in den Niederland­en als Großliefer­ant für die EU angeführt. Dieses hat aber bis heute nicht die Zulassung durch die EU-Behörden erhalten.

Erst jetzt werden, wie ein Kommission­svertreter erklärte, Gespräche mit anderen Staaten und mit Hersteller­n darüber geführt werden, wie es Hilfe beim Aufbau der Produktion und Lieferkett­en geben könne. Ihnen sollen auch langfristi­ge Beziehunge­n in Aussicht gestellt werden. Diesem Zweck dürfte auch ein Telefonat von Kanzlerin Angela Merkel mit Boris Johnson am Dienstag gedient haben. Der britische Premier äußert sich inzwischen sehr moderat und sagte, er sei sich sicher, dass »die EU-Partner keine Blockaden wollen«.

Von der Leyens Attacke dürfte auch darauf zurückzufü­hren sein, dass es intern immer lautere Kritik an der Kommission gibt. Wie die schleppend laufenden Impfkampag­nen vorangebra­cht werden können, sei eine »Top-Priorität« des Gipfels, schrieb EU-Ratspräsid­ent Charles Michel in seinem Einladungs­brief vom Dienstag. Der Gipfel wolle »mehr Transparen­z und Vorhersehb­arkeit der Versorgung« mit Impfstoffe­n.

Es gibt nämlich auch Ärger wegen der intranspar­enten Verteilung der knappen Mengen. Österreich und mehrere osteuropäi­sche Staaten haben scharf kritisiert, dass die Impfstoffe nicht ausschließ­lich nach dem Bevölkerun­gsschlüsse­l verteilt werden, sondern auch gemäß nationalen Bestellmen­gen. Der Wiener Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) warnte sogar vor einer Spaltung Europas wegen der Impfstoffe: »Wir können kein Interesse daran haben, dass sich die Kluft innerhalb der Europäisch­en Union bei der Durchimpfu­ng der Bevölkerun­g immer mehr vergrößert und wir somit Mitgliedst­aaten zweiter Klasse schaffen«, sagte er. Die Kommission möchte eine zusätzlich­e Lieferung von Biontech für einen Ausgleich verwenden, was aber die deutsche Regierung ablehnt. Und so hat auch dieses Gründungsv­ersprechen der EU wenig mit der Corona-Realität zu tun: dass die Europäer an einem Strang ziehen.

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