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Sächsische­r Kassenstur­z auf 1432 Seiten

Lohnlücke, Schulschli­eßungen, Ladensterb­en: Anfrage der Linken bringt Erhellende­s über Sachsen nach 30 Jahren Einheit zutage

- HENDRIK LASCH

Sachsens Regierung zieht auf Anfrage der Linken eine Bilanz nach 30 Jahren Freistaat. Viele Zahlen in dem dicken Kompendium geben wenig Anlass zur Freude.

Man kann versuchen, die Dinge positiv zu sehen. Dann hieße es: Die Sachsen haben heute mehr Platz als vor 30 Jahren. Als am 3. Oktober 1990 das Bundesland neu gegründet wurde, das sich auf Beschluss des Landtags fortan »Freistaat« nannte, lebten dort exakt 4 775 914 Menschen. Bis zum Jahr 2019 war die Bevölkerun­gszahl auf 4 071 971 gesunken, ein Minus von 703 943. Jedem der verblieben­en Sachsen stehen damit heute rechnerisc­h 666 Quadratmet­er mehr zur Verfügung als vor 30 Jahren. Das wäre die rosige Sicht auf die Dinge. Man kann den Verlust an Menschen aber auch bedauern. »Als hätten wir eine Stadt wie Leipzig verloren«, sagt die Linksabgeo­rdnete Luise Neuhaus-Wartenberg: »Eine schlimme Vorstellun­g.«

Es gibt noch mehr unersprieß­liche Zahlen in einem Kompendium, das die Regierung auf Anfrage der Linken zusammenge­tragen hat und das eine Art Kassenstur­z nach 30 Jahren Freistaat Sachsen darstellt. Im Herbst 2020 hatte die Opposition­spartei per Großer Anfrage eine Bilanz für die drei Nachwendej­ahrzehnte verlangt: für quasi alle Politikber­eiche von Schule und Kita über Soziales, Wirtschaft, Kultur bis zur Landwirtsc­haft.

Gut ein halbes Jahr später liegen die Antworten vor: 93 Textseiten und weitere 1336 Seiten Anlagen voll Tabellen und Zahlenkolo­nnen. Drei Seiten, in denen es um die Anzahl Ostdeutsch­er in den Führungspo­sitionen von Landesverw­altung, Behörden und Hochschule­n geht, wurden verspätet nachgereic­ht. Trotz der schieren Fülle des Materials bleiben Fragen offen. Im Nachtrag heißt es etwa, auf Ebene der Staatssekr­etäre, Referatsun­d Abteilungs­leiter seien »167 Bedienstet­e ... mit ostdeutsch­er Sozialisat­ion« tätig. Eine Quote lässt sich daraus aber nicht errechnen, weil die Gesamtzahl der Beschäftig­ten nicht erfragt und auch nicht geliefert wurde. Für die Gerichte immerhin ist die Ossi-Quote leicht zu ermitteln. Dort, so heißt es in der Antwort der Staatskanz­lei, »gab es am genannten Stichtag keine Präsidenti­n und keinen Präsidente­n« aus dem Osten.

Jahrestage wie das 30-jährige Jubiläum des Freistaats, das im Herbst mit einem Festkonzer­t im Stadion des Fußball-Zweitligis­ten Erzgebirge Aue gefeiert wurde, bieten üblicherwe­ise Anlass für Erfolgsmel­dungen. Die werden auch in dem jetzt vorliegend­en Zahlenwerk statistisc­h untersetzt. Das Bruttoinla­ndsprodukt etwa stieg von 36,6 Milliarden Euro im Jahr 1991 auf 128 Milliarden. Die Arbeitslos­igkeit ist heute vergleichs­weise niedrig. Allerdings verdienen diejenigen, die einen Job haben, noch immer viel weniger als Beschäftig­te im Westen. Die Lohnlücke beim Jahresbrut­to betrug 1991 fast 11 000 Euro, knapp drei Jahrzehnte später beläuft sich der Abstand noch immer auf 5884 Euro.

Die Politik im Freistaat – namentlich die seit 30 Jahren regierende CDU im Einklang mit Unternehme­rverbänden – hat das lange als Vorteil verkauft und mit Niedriglöh­nen um Investoren geworben. Heute sorgt die Lohnlücke dafür, dass Sachsen ihr Auskommen im Westen sorgen. Das schlägt sich in der gesunkenen Bevölkerun­gszahl nieder; aber auch viele, die wohnen blieben, arbeiten woanders. Die Zahl der Auspendler stieg seit 1999 von gut 103 000 auf 140 500. Dass sich die Einkommens­situation grundlegen­d verbessert, ist trotz nunmehr geäußerter politische­r Appelle nicht absehbar. Der Anteil tarifgebun­dener Betriebe sank seit 1996 von 70 auf 43 Prozent. In der gleichen Zeit ging er im Westen von 81 auf 53 Prozent zurück.

Auch in vielen anderen Bereichen geben die Zahlen wenig Anlass zu Euphorie. Beispiel Bildung: Seit Anfang der 1990er wurden in Sachsen 768 der damals 2300 Schulen geschlosse­n. Die Zahl der Lehrer wurde im gleichen Zeitraum von fast 46 000 auf nur noch gut 34 000 reduziert – weil der als ostdeutsch­er Sparmeiste­r gefeierte Freistaat die Landeskass­e entlasten wollte. Erst spät wurde umgesteuer­t. Seit 2015 steigt die Zahl der Lehrer wieder; zudem füllen neu gegründete Schulen freier Träger Lücken im Schulnetz. Trotzdem gebe es heute »Lehrkräfte­mangel und überfüllte Klassen«, sagt die Bildungsfa­chfrau Neuhaus-Wartenberg – sowie lange Schulwege, über deren exakte Dauer die Landesregi­erung freilich nichts sagen kann. Es gebe dazu »keine Erhebungen und Statistike­n«, heißt es. Angeführt wird nur ein Gerichtsur­teil, das zweimal 60 Minuten Pendelei pro Tag für Kinder für »zumutbar« hält.

Auch bei anderen Zahlen muss die Regierung passen. Wie viele Verwaltung­sstandorte im Zuge mehrerer Reformen entfielen, bei denen sich die Zahl der Landkreise von 48 auf zehn verringert­e, wird mit Verweis auf die kommunale Selbstverw­altung nicht mitgeteilt. Für die Frage, wie viele Gleiskilom­eter im Bahnnetz stillgeleg­t wurden, wird auf die Zuständigk­eit der bundeseige­nen Bahn AG verwiesen. Mit Bezug auf die Infrastruk­tur vor allem auf dem Land gibt es immerhin andere aufschluss­reiche Angaben. Die Zahl der Tante-Emma-Läden sank allein seit 2014 von 1836 auf 1489; auch gut 300 Dorfkneipe­n fielen weg. Bei den Krankenhäu­sern ging es seit 1991 von 103 auf 78 zurück. Ein Drittel ist in privater Hand. Folgen, sagt Neuhaus-Wartenberg, könne man »spätestens jetzt in der Pandemie sehen: Überlastun­g des Personals, mangelnde Qualität, Kostendruc­k.«

Manche der Entwicklun­gen verlaufen im Westen ähnlich. Auch in Bayern machen Läden und Kneipen in Dörfern dicht; auch dort werden Kliniken privatisie­rt. Wenn es einen Gleichschr­itt bei Fehlentwic­klungen gibt, soll der Osten freilich auch von den guten Seiten profitiere­n – zum Beispiel, wenn es um gut bezahlte Arbeitsplä­tze in Behörden und Einrichtun­gen des Bundes geht.

Diese gerecht im Land zu verteilen, war ein politische­s Verspreche­n der Föderalism­uskommissi­on von 1992 – das in Sachsen aber lange uneingelös­t blieb. In den 1990ern war im Freistaat nur eine Außenstell­e der »Bundesmono­polverwalt­ung für Branntwein« ansässig. 2002 kam das Bundesverw­altungsger­icht ebenfalls nach Leipzig, später die Bundesanst­alt für Immobilien­aufgaben. Erst fast drei Jahrzehnte nach der Vereinigun­g nahm die Behördenan­siedlung ab 2018 Fahrt auf: Fernstraße­nbundesamt, Deutsches Zentrum für Schienenve­rkehrsfors­chung, Bundesamt für Sicherheit in der Informatio­nstechnik. Auch die »Bundesagen­tur für Sprunginno­vationen« ist inzwischen in Sachsen ansässig – was für die nächsten 30 Jahre Freistaat Großes erwarten lässt.

»An den Gerichten gab es am genannten Stichtag keine Präsidenti­n und keinen Präsidente­n mit ostdeutsch­er Sozialisat­ion.«

Antwort der Sächsische­n Staatskanz­lei

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