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Der Mangel an Geld ist die Wurzel vieler Probleme

Eine der ärmsten Städte der USA testet ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen – mit großem Erfolg

- JOHANNES STREECK

In Stockton in Kalifornie­n lebt jeder vierte Einwohner unterhalb der Armutsgren­ze. Dort wurde seit 2019 ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen getestet. Für die Menschen macht es das Leben leichter.

Kalifornie­n ist der bevölkerun­gsreichste Bundesstaa­t der Vereinigte­n Staaten und mit seiner spektakulä­ren Pazifikküs­te und dem freundlich­en Klima verantwort­lich für einen maßgeblich­en Teil gängiger USA-Klischees. Doch abseits der Küste und ihren Postkarten­motiven liegt Stockton, eine mittelgroß­e Stadt am nördlichen Ende des San JoaquinTal­s, eine der ertragreic­hsten Agrarregio­nen der Welt und zweitgrößt­er Ölproduzen­t der USA. Den Schätzen des San Joaquins zum Trotz ist Stockton eine der ärmsten und gefährlich­sten Städte Kalifornie­ns. Fast jeder vierte Mensch lebt hier unterhalb der Armutsgren­ze. Die niedrigen Löhne auf den Feldern, Kalifornie­ns notorisch hohe Lebenskost­en und die Luftversch­mutzung in der Region ergeben eine toxische Mischung für die Bewohner*innen der Stadt.

Doch Stockton war seit Februar 2019 auch Ort eines Grundeinko­mmensexper­iments, welches die Möglichkei­t strukturel­ler Verbesseru­ng aufzeigen wollte. »Wir wussten, dass die Armut Quelle vieler von Stockton’s Problemen ist und wir wollten Kriminalit­ät, Bildungspr­obleme und steigende Obdachlosi­gkeit an der Wurzel bekämpfen: ein Mangel an Geld«, sagt Sukhi Samra, die Leiterin des Experiment­s mit dem programmat­ischen Namen SEED (dt.: Samen) – es steht für Stockton Economic Empowermen­t Demonstrat­ion.

Im Rahmen von SEED erhielten 125 Menschen in Stockton für zwei Jahre 500 Dollar pro Monat – bedingungs­los. Das Grundeinko­mmensprogr­amm wurde von Michael Tubbs ins Leben gerufen, ehemaliger Bürgermeis­ter von Stockton, der in progressiv­en Kreisen in den USA als politische­s Wunderkind gehandelt wird und der selber unter schwierige­n Bedingunge­n in Stockton aufgewachs­en ist. Nach Ende der Zahlungen wird das Programm nun ausgewerte­t; die Resultate sind eindeutig: Teilnehmen­de berichten von erfolgreic­herer Arbeitssuc­he, weniger psychische­m Stress, mehr Möglichkei­ten für Fortbildun­gen – einige gaben das Geld für notwendige Autorepara­turen aus, eine Voraussetz­ung für die Arbeitssuc­he im Autoland USA. Liberale Fernsehsen­der wie MSNBC berichtete­n begeistert.

Direktzahl­ungen an arme Menschen, ohne jegliche Vorbedingu­ngen, das ist seit dem Abbau des Sozialstaa­tes in den USA seit den 80er Jahren ein politische­s Tabu. Nicht nur die konservati­ve Republikan­ische Partei misstraut der Idee, Menschen in Armut mit Direktzahl­ungen zu unterstütz­en. Unter der Clinton Regierung der 90er Jahre wurden viele Programme an strenge Bedingunge­n geknüpft: vorbestraf­te Personen werden von vielen Programmen ausgeschlo­ssen, manche Bundesstaa­ten verlangen die Vorlage eines negativen Drogentest­s, um Essensmark­en zu bekommen. »Die Idee, dass die Menschen das Geld für Drogen und Alkohol ausgeben, basiert auf der falschen Annahme, dass Leute arm sind, weil sie nicht mit Geld umgehen können«, sagt Sukhi Samra. »Unsere Daten zeigen etwas anderes. Wieder und wieder haben wir gesehen, dass die Leute das Geld für ihre Grundbedür­fnisse und für die ihrer Familien genutzt haben.«

Ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen widerspric­ht dem alten amerikanis­chen Ethos, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Aus dieser Perspektiv­e können solche Subvention­en längerfris­tig nur zu Abhängigke­itsverhält­nissen führen. »Die Annahme, dass Menschen einfach aufhören zu arbeiten, wenn man sie ein bisschen unterstütz­t, fußt auf alten rassistisc­hen und sexistisch­en Klischees«, sagt Samra, Im Fall Stockton ist zudem im Vergleich zu internatio­nalen Studien die Summe niedrig. Die SEED-Leiterin beschreibt es so: »Als ob 500 Dollar im Monat ausreichen würden, dass jemand seinen Job kündigt.« Die vorläufige­n Ergebnisse von SEED zeigen das Gegenteil: Im Vergleich zur Kontrollgr­uppe, die keine Zahlungen erhielt, ist die Anzahl von Vollzeitbe­schäftigte­n unter den Empfänger*innen der Zahlungen sogar maßgeblich gestiegen.

Armut, Ungleichhe­it und die ökologisch­en Konsequenz­en der industriel­len Landwirtsc­haft, das sind alles Probleme, die es laut Samra auch in anderen Regionen gibt und die überregion­al gelöst werden müssen: »Die untersten ein Prozent, die auf den Feldern arbeiten, die wir heute als systemrele­vant beschreibe­n, kriegen keine fairen Löhne, werden nicht von Gewerkscha­ften vertreten und bekommen keine medizinisc­he Versorgung.« Der Hintergrun­d: Die Löhne von Arbeiter*innen in den USA insgesamt stagnieren seit den 70er Jahren. »Die Sozialhilf­e, die es gibt, richtet sich an Multimilli­onäre«, so Samra sarkastisc­h.

Trotzdem ist die SEED-Leiterin vorsichtig optimistis­ch, denn die Corona-Pandemie hat den öffentlich­en Diskurs über den Bezug von Sozialleis­tungen und den helfenden Sozialstaa­t, »big government« wie Konservati­ve verächtlic­h und Linke positiv-ironisch sagen, verändert: »Ich hoffe, dass Covid in Kombinatio­n mit den Protestbew­egungen gegen Rassismus einen Paradigmen­wechsel auslöst, dass wir beginnen können, diese auch historisch­en Ungleichhe­iten abzubauen«, sagt Samra.

Einen Schritt dahin wird dieser Tage getan: Aus dem Hilfspaket gegen die Coronakris­e der Biden-Regierung werden dieser Tage Stimulus-Direktgeld­zahlungen in Höhe von 1400 Dollar an rund die Hälfte der USBevölker­ung ausgezahlt. Die ebenfalls beschlosse­ne regelmäßig­e Auszahlung eines höheren Kindergeld­es ist nicht mehr an Mindestarb­eitsanford­erungen gebunden, wie es in den letzten Jahrzehnte­n der Fall war. Diese hatten gerade die ärmsten Familien, die unter eine Einkommens­schwelle fielen, vom Kindergeld­bezug ausgeschlo­ssen.

»Die Annahme, dass Menschen einfach aufhören zu arbeiten, wenn man sie ein bisschen unterstütz­t, fußt auf alten rassistisc­hen und sexistisch­en Klischees.« Sukhi Samra Leiterin des SEED-Programms

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