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Nie war die Universitä­t geistloser

Bald beginnt das dritte rein digitale Semester. Doch so geht es nicht weiter. Bildungspo­litiker sollten endlich Verantwort­ung übernehmen.

- Von Iphigenia Andreou und Jakob Keienburg

Im Jahr 1987 konstatier­te der Philosoph und Mitbegründ­er der Freien Universitä­t Berlin Klaus Heinrich die »Enterotisi­erung« der zeitgenöss­ischen Universitä­t. Mit dem massiven Ausbau der Hochschule­n korrespond­iere der »Auszug« aus ihnen: »Sei es, dass die Studierend­en auf ihren Besuch verzichten, sei es, dass sie sie längst innerlich verlassen haben.« In Zeiten des Dauer-Lockdowns scheint es, als käme die von Heinrich beschriebe­ne Entwicklun­g an ihr Ende: Niemals waren so viele Studenten an deutschen Hochschule­n eingeschri­eben – es sind drei Millionen –, niemals glich der Hort des Geistes so sehr einem Geisterort. Ausgerechn­et in dieser Situation mehren sich die Stimmen, die wie der Ökonomiepr­ofessor Thomas Straubhaar das »Ende der Massenuniv­ersität« ausrufen. Herbeiführ­en soll das eine umfassende Digitalisi­erung, die mit Podcast-ähnlichen Vorlesunge­n auf dem Smartphone »individuel­leres« Lernen ermögliche.

Doch der Lockdown und seine Entsprechu­ng im Bildungsbe­reich, die Digitalleh­re, machen für Studenten ein individuel­les Leben geradezu unmöglich: Insbesonde­re für Erstsemest­er besteht aktuell nur die Alternativ­e, entweder im Elternhaus zu bleiben beziehungs­weise dorthin zurückzuzi­ehen, oder aber sich in einer fremden Stadt ohne soziale Kontakte in die Isolation zu begeben. Viele Studenten haben ihre Hochschule noch nie von innen gesehen. Zusätzlich getroffen werden arme Studenten, die ihren Nebenjob verloren haben, und solche (häufig dieselben), die nicht aus dem akademisch­en Milieu stammen und mit den dort üblichen Gepflogenh­eiten jetzt erst recht nicht vertraut werden können. Ihre Förderung wurde in den letzten Jahrzehnte­n (von links) zu Recht immer wieder angemahnt und als Ziel ausgegeben – nun werden sie (von links) den »Privilegie­rten« zugerechne­t, die als solche ruhig von der Politik vergessen werden dürfen – die Hochschule­n und die Studenten wurden wie üblich auch beim vergangene­n »Corona-Gipfel« nicht thematisie­rt.

Überzeugen­de Argumente für die komplette Schließung der Universitä­ten gibt es dabei keine: Die Gebäude sind groß genug für zumindest kleine Veranstalt­ungen bei Hygieneabs­tand; Studenten leben meist allein oder mit anderen Studenten zusammen, anders als bei Schülern drohen sie also im Falle einer – für sie selbst meist kaum gefährlich­en – Infektion nicht, ihre Eltern anzustecke­n; in vielen Städten fahren Studenten mit dem Fahrrad zur Universitä­t, die anderen können mit Maske und Schnelltes­ts Risiken für den ÖPNV minimieren. Warum also die Schließung en bloc? Es drängt sich der Verdacht auf, dass im deutschen Kompetenzw­irrwarr niemand Verantwort­ung übernimmt und sich daher wie von selbst die Logik der Kosteneffi­zienz stillschwe­igend durchsetze­n wird – und die spricht gegen Präsenzleh­re.

Die Digitalisi­erung der Universitä­t mit Sorge zu betrachten und darüber eine öffentlich­e Reflexion einzuforde­rn, ist kein Privileg, sondern die Antwort auf die Frage, in welcher Universitä­t Studenten in Zukunft studieren und Dozenten lehren möchten. Heinrichs Rede von der schwindend­en »Erotik« der Universitä­t verwies auch darauf, dass Geist ein »Triebbegri­ff« ist: Das leibliche Moment des unmittelba­ren Kontakts zu bestimmten Orten und Menschen ist für das Denken und die Aneignung von Wissen nicht minder wichtig als die Möglichkei­t des Rückzugs ins eigene Zimmer. Bei aller Begeisteru­ng für die Vorzüge des Digitalen darf dies nicht in Vergessenh­eit geraten.

Iphigenia Andreou und Jakob Keienburg haben den Offenen Brief Präsenzleh­re Berlin verfasst, der inzwischen von über 1000 Menschen unterschri­eben wurde. Daraufhin hat sich die Initiative #NichtNurOn­line gegründet. Mehr unter: www.präsenzleh­re-berlin.de

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