Kanzlerin droht mit härterer Gangart
Trotz hoher Corona-Infektionszahlen wird in den Ländern nur teilweise die Notbremse gezogen
Angela Merkel kündigte in der ARD ein Einschreiten des Bundes mittels Gesetzesänderung an, sollten vereinbarte Corona-Regeln bei Inzidenzwerten über 100 nicht eingehalten werden.
Angesichts der bundesweit stark steigenden Zahl an Infektionen mit dem Coronavirus hat Bundeskanzlerin Angela Merkel eine härtere Gangart gegenüber den Bundesländern angekündigt. Sie hoffe, dass die Landesregierungen dafür sorgen, dass die in der Konferenz der Ministerpräsidenten mit ihr vereinbarten »Notbremse«-Regelungen eingehalten werden. Anderenfalls werde sie dafür eintreten, dass das Infektionsschutzgesetz so geändert wird, dass der Bund für einheitliche Vorgaben sorgen kann, sagte die CDUPolitikerin am Sonntagabend in der ARD.
Vereinbart war, dass – sollte die SiebenTage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen pro 100000 Einwohner regional eine Woche lang überschritten werden – bereits verfügte Lockerungen der Corona-Beschränkungen wieder zurückgenommen werden. Dies betrifft insbesondere Geschäfte und die Außenbereiche gastronomischer Einrichtungen.
Merkel brachte im ARD-Interview nun auch Ausgangssperren ins Gespräch.
Die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenzen werden bislang erst durch die Umsetzung in Länderverordnungen verbindlich. Der Verfassungsrechtler Michael Brenner von der Universität Jena ist überzeugt, dass der Bund relativ einfach das Infektionsschutzgesetz verschärfen oder ein Covid-19-Bekämpfungsgesetz erlassen kann.
»Man hätte dann nicht mehr diesen 16-teiligen Flickenteppich.«
Verfassungsrechtler Michael Brenner über ein Bundesgesetz zur Pandemiebekämpfung
»Der Bundesrat muss beteiligt werden, aber letztendlich kann er es nicht verhindern«, sagte Brenner der dpa. Demnach handele es sich nicht um ein Zustimmungsgesetz, für das der Bundesrat grünes Licht geben muss, sondern um ein Einspruchsgesetz. Bei einem solchen könne der Bundesrat zwar Einspruch einlegen, dieser könne aber »wiederum vom Bundestag beiseite geschoben werden«. Bei Erlass eines Gesetzes könne der Bund Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ergreifen, die dann durch die Bundesländer vollzogen werden müssten. »Man hätte dann vielleicht nicht mehr diesen 16-teiligen Flickenteppich, der im Moment ein bisschen hinderlich erscheint«, so Brenner.
Die Linke unterdessen lehnt flächendeckende nächtliche Ausgangsbeschränkungen ab. Parteichefin Janine Wissler sagte am Montag in Berlin, es sei Menschen schwer zu erklären, wenn sie am Tag mit vollen Bussen und Bahnen zur Arbeit führen und nach 20 oder 21 Uhr nicht spazieren gehen dürften. Das wäre »unverhältnismäßig«. Vielmehr müsse das Arbeitsleben stärker in den Blick genommen werden, betonte Wissler. Unternehmer müssten verpflichtet werden, Arbeitenden, die nicht ins Homeoffice könnten, täglich Tests anzubieten. Zudem fordere sie eine Homeofficepflicht »für alle, die nicht dringend in Präsenz erforderlich sind«.
Unterdessen wurden in einigen Gebieten bereits nächtliche Ausgangssperren verfügt. So soll in der Region Hannover am Donnerstag eine solche von 22 Uhr bis 5 Uhr in Kraft treten. Zuvor hatten bereits die Landkreise Cloppenburg, Emsland und Peine Ausgangssperren angekündigt.
Der politische Druck auf den rot-rotgrünen Senat aus der Bundespolitik und von Verbänden ist enorm. An diesem Dienstag will sich der Senat erneut treffen. In der Koalition zeigen sich erste Risse.
Die Bundeskanzlerin gibt den Ton vor. »Ich weiß jetzt wirklich nicht, ob Testen und Bummeln, wie es in Berlin heißt, die richtige Antwort auf das ist, was sich derzeit abspielt«, erklärte Angela Merkel (CDU) in der ARD-Talkshow von Anne Will am Sonntag. Gemeint waren die erst am Tag zuvor verabredeten neuen Maßnahmen des Senats, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Doch obwohl die Inzidenzzahlen in der Hauptstadt seit Tagen über der Marke von 100 liegen, hatte das Mitte-links-Bündnis darauf verzichtet, die zuvor zwischen Bund und Ländern für diesen Fall verabredete »Notbremse« zu ziehen – zu dieser würde unter anderem auch die Verhängung von Ausgangssperren zählen. Zuletzt lagen die Inzidenzwerte laut Lagebericht des Senats am Montag bei 146,4.
Stattdessen nahm Berlin verstärkt die Unternehmen in die Pflicht. So gilt ab diesen Mittwoch, dass Unternehmen verpflichtet sind, einen Teil der Belegschaft in den Großraumbüros ins Homeoffice zu schicken, um Ansteckungen mit dem Coronavirus auf der Arbeit zu vermeiden. Die Hälfte der Büros soll leer bleiben – sogenannte Wechselschichten sollen eingeführt werden.
Außerdem werden die vorsichtigen Lockerungen im Handel und der Kultur durch verschärfte Regeln für Tests ergänzt. Überdies gilt in allen Innenräumen und auch im Öffentlichen Personennahverkehr die Vorgabe, eine FFP2-Schutzmaske zu tragen. Für Besuche im Friseur- oder Kosmetiksalon sowie in Museen und Galerien ist ein negatives Testergebnis dann obligatorisch. Von der Testpflicht ausgenommen bleiben dagegen Supermärkte, Apotheken oder Drogerien, die auch im Lockdown offen waren.
Harsch kritisiert werden die Senatsmaßnahmen unterdessen von Unternehmern. Neben der IHK kritisierte unter anderem die Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg, dass die Beschlüsse wirkten wie ein Misstrauensvotum der Politik gegenüber der Wirtschaft. Die Unternehmen müssten nach dem Willen des Senats jede Woche mehr als zwei Millionen Tests anbieten. Diese Menge werde auf absehbare Zeit kaum verfügbar sein. Sogar der Bundesverband der Deutschen Industrie äußerte sich zu den Beschlüssen des Senats und des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD). Dass über Nacht pauschale Vorgaben gemacht würden, obwohl es eine Vereinbarung zwischen Bundesregierung, Ministerpräsidenten und den Spitzenverbänden der Industrie gibt, finde er irritierend, sagte BDIPräsident Siegfried Russwurm dem »Tagesspiegel«. Feste Quoten seien realitätsfern.
Dass es massive Kritik geben dürfte, wird den Verantwortlichen in der Mitte-links-Koalition am vergangenen Samstag bei der Entscheidung zu den Beschlüssen klar gewesen sein. Doch für nächtliche Ausgangssperren gibt es keine Mehrheit, sie werden von Grünen und Linken in der Koalition nicht mitgetragen. In Bayern beispielsweise, wo es in einigen Landkreisen solche Grundrechtseinschränkungen gibt, zeigen sie auch wenig Effekt. Außerdem fragt man sich in der rot-rotgrünen Koalition, wie so etwas wie Passierscheine durchgesetzt werden sollen, in einer Metropole, in der nachts Zehntausende einer Arbeit nachgehen?
Aber es gibt auch koalitionsintern den Ruf nach Verschärfungen: »Die möglichen Schritte liegen auf dem Tisch: Die erneute Schließung einzelner Bereiche im Geschäftsleben, schärfere Kontaktbeschränkungen und die Möglichkeit einer Verlängerung der Schulferien«, erklärte die Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, auf Twitter.
Die Sitzung des Senats an diesem Dienstag verspricht kontrovers zu werden.