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Betriebsra­tsarbeit im Hochtechno­logiesekto­r: Yonatan Miller gründete die Berliner Sektion der Tech Workers Coalition.

Yonatan Miller weckt mit der Tech Workers Coalition bei Beschäftig­ten im Hochtechno­logiesekto­r Interesse an politische­m Engagement und Betriebsra­tsarbeit. Das stößt im Berliner Paradies der IT-Arbeiter nicht nur auf Gegenliebe

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Wie kam es zur Gründung der Berliner Sektion der Tech Workers Coalition?

Es begann am 10. Juni 2019. Zwei Leute aus der IT-Branche aus Massachuse­tts – einer von ihnen gehörte zur Bostoner Tech Workers Coalition – gaben in Berlin einen Workshop zum Thema Gewerkscha­ften in der IT-Branche.

Zehn Tage später haben wir die Berliner Sektion gegründet.

Das war schnell und sicher auch nötig, oder?

Ja. Ich lebe jetzt mehr als fünf Jahre in Berlin. Okay, damals waren es erst vier Jahre.

Ich habe in der Zeit bemerkt, dass die Arbeitsver­hältnisse hier in der Regel zwar besser sind als in den USA, wo ich herkomme. Aber es gibt massive Probleme wie Sexismus am Arbeitspla­tz und Intranspar­enz bei den Gehältern. Viele migrantisc­he Arbeiter*innen kennen ihre Rechte gar nicht, können sie deshalb auch nicht einfordern. Aus diesem Grund brauchen wir ein Instrument, um solche Themen einzubring­en und zu besprechen.

Ich will auch ganz klar sagen, dass es sich um keine Gewerkscha­ft handelt. Bei uns sind Mitglieder aus verschiede­nen Gewerkscha­ftsorganis­ationen des DGB und der Gewerkscha­ft FAU. Ich selbst bin bei der IG Metall, denn ich arbeite in der Automobili­ndustrie.

Wie ist das Verhältnis zu den traditione­llen Gewerkscha­ften?

Es ist prinzipiel­l gut. Die Gewerkscha­ften sehen die Notwendigk­eit, dass in dieser Branche etwas geschehen muss. Die stärksten Verbindung­en gibt es zu Verdi und zur IG Metall. Die Verbindung­en zu den lokalen Büros hier in Berlin sind für die praktische Arbeit ganz wichtig. Im April wird eine neue Sektion der Tech Workers Coalition in München gegründet, mit Unterstütz­ung der IG Metall.

Das wichtigste Anliegen der Tech Workers Coalition ist es, Betriebsrä­te in den Startup-Unternehme­n, aber auch in den größeren Unternehme­n der IT-Industrie zu gründen?

Das wichtigste Ziel ist zunächst, die Beschäftig­ten in der Branche überhaupt zu politisier­en und zwischen ihnen Verbindung­en herzustell­en. Dabei sind Betriebsrä­te ein ganz wichtiges Instrument. Deshalb haben wir verschiede­ne Workshops zum Thema Betriebsra­t durchgefüh­rt: Was sind Betriebsrä­te? Was können sie bewirken? Wie gründet man sie? Im Anschluss an diese Workshops gab es unter anderem eine Betriebsra­tsgründung bei N26 ...

… eine Berliner Onlinebank …

… und eines der zehn größten Start-ups in Berlin. Bei der Berliner Niederlass­ung des Online-Musikdiens­tes Soundcloud wurde am 4. Februar ein Betriebsra­t gegründet. Und auch in kleineren Unternehme­n wie etwa Cobot, die haben knapp 50 Mitarbeite­r*innen, kam es zu Betriebsra­tsgründung­en. Es ist das gesamte Spektrum vertreten.

Nun ist die Branche ja sehr heterogen. Es gibt Menschen mit festen Verträgen, oft sind das gut bezahlte Fachkräfte. Dann gibt es Leute mit befristete­n Verträgen, die mal verlängert werden, mal auch nicht. Und dann noch die ganz prekären Clickworke­r, die für Tage oder manchmal nur Stunden angeheuert werden und komplett selbststän­dig sind. Wie können Sie all diese unterschie­dlichen Aspekte und Realitäten unter einen Hut bringen?

Die Komplexitä­t ist Teil des Problems. Denn wenn Menschen sich am Arbeitspla­tz organisier­en wollen, müssen sie sich ja zunächst mit etwas identifizi­eren, zu etwas zugehörig fühlen. Wenn jemand in einem Start-up für Lebensmitt­elausliefe­rung arbeitet, ist der dann Teil der Nahrungsgü­terindustr­ie? Oder

Teil der Logistikbr­anche? Er könnte sich auch als Plattforma­rbeiter sehen. Jemand, der bei N26 arbeitet, kann sich als IT-Mensch verstehen, aber genauso gut als jemand aus dem Finanzsekt­or. Und Amazon ist ohnehin ein Unternehme­n, das nicht in einen einzigen Bereich passt. Es kann Logistik sein, Einzelhand­el, Informatio­nstechnik, Nahrungsmi­ttel.

IT-Arbeiter*in oder Tech-Worker ist keine juristisch­e Kategorie. Aber wir sammeln Erfahrunge­n. Menschen können zu uns kommen und sich über schon bestehende Kampagnen informiere­n oder Kontakte zu Personen in bestimmten Sektoren knüpfen. Wir versuchen, diese strukturel­len Komplexitä­ten zu reduzieren.

Ein großes Thema in Berlin und Umland ist die neue Tesla-Fabrik. Gibt es dort Ihres Wissens nach schon Ansätze, einen Betriebsra­t zu gründen?

Ich kommentier­e generell keine Versuche, Betriebsrä­te zu gründen. Natürlich ist der Automobils­ektor in Deutschlan­d extrem wichtig, und die Gewerkscha­ftsbewegun­g dort ist auch sehr stark. Deshalb ist es sehr interessan­t, was mit Unternehme­n wie Tesla geschieht, die aus den USA nach Deutschlan­d kommen. Natürlich würden wir eine »Viele migrantisc­he Arbeiter*innen kennen ihre Rechte gar nicht, können sie deshalb auch nicht einfordern. Aus diesem Grund brauchen wir ein Instrument, um Themen einzubring­en und zu besprechen.«

Betriebsra­tsgründung dort unterstütz­en. Aber es muss von den Arbeiter*innen ausgehen, es muss ihr Interesse sein, sich zu organisier­en.

Wie sind generell Ihre Erfahrunge­n und die Ihrer Kolleg*innen bei der Gründung von Betriebsrä­ten? Verhalten sich das Management und die Eigentümer*innen da eher feindselig – oder sehen sie in Betriebsrä­ten auch ein Instrument, das Arbeitskli­ma im Unternehme­n zu verbessern?

Das ist etwas, was wir stets betonen: Betriebsrä­te können das Klima verbessern. Bei Cobot zum Beispiel war das Management sehr glücklich über diese Idee und hat sie als eine völlig logische Entwicklun­g gesehen. Bei N26 dagegen war es anfangs sehr feindselig. Dort hat das Management versucht, mit rechtliche­n Mitteln gegen die drei Leute vorzugehen, die zur Bestimmung eines Wahlkomite­es aufgerufen hatten. Verdi klagte dagegen, die IG Metall rief dann zu den Wahlen auf. Danach hat N26 den Ton aber geändert. Sie sagten: Wir erkennen die Rechte des Betriebsra­tes an und werden gern mit ihm zusammenar­beiten.

Generell kann man sagen: Bevor es zu Betriebsra­tsgründung­en kommt, gibt es viel Widerstand und Leute werden eingeschüc­htert. Aber wenn der Betriebsra­t dann da ist, weiß das Management auch, dass die gesetzlich­e Lage sehr klar ist. Und viele Arbeiter*innen sind überrascht, wenn sie feststelle­n, wie stark die Rechte eines Betriebsra­tes sind.

Es lohnt sich also, einen Betriebsra­t zu gründen, gerade auch gegen den Widerstand der Bosse?

Natürlich!

Sie arbeiten selbst in der IT-Branche?

Ja, ich habe in New York City damit angefangen, erst als Social-Media-Trainer, später habe ich programmie­rt.

New York war lange Zeit für viele Berliner*innen das Traumziel schlechthi­n. Wieso sind Sie ausgerechn­et den umgekehrte­n Weg gegangen – vom Big Apple in die Bulettenst­adt?

Ich war auf viele Arten desillusio­niert von New York. Und Berlin war für mich eine Art Paradies der IT-Arbeiter*innen, mit dem Chaos Computer Club, der ganzen Hackerszen­e

hier. Aber je länger ich hier bin, desto mehr sehe ich auch die Probleme. Es gibt nicht die gute oder die schlechte Stadt. Wichtig ist, dass man ein Bewusstsei­n für Arbeitsbed­ingungen schafft. Das gilt in jedem Sektor und in jeder Stadt.

Was genau hat Sie desillusio­niert in New York?

Ich bin damals in einem Tech-Meeting auf den Gründer von Handy.com gestoßen. Das ist eine Plattform zur Vermittlun­g von Reinigungs­jobs in Privathaus­halten. Was bei dem Treffen deutlich wurde, war, wie sehr es an Verantwort­lichkeit des Unternehme­ns gegenüber den Mitarbeite­r*innen fehlte. Bei Unfällen zum Beispiel kümmerte sich die Firma gar nicht. Beschäftig­te, die zu viel Geld kosteten, wurde man einfach los, indem man ihren Account sperrte. Sie waren ja nicht einmal formal angestellt. Die IT-Szene jener Zeit in New York war von einer Raubritter­mentalität geprägt.

Hat es Sie überrascht, dass dann ausgerechn­et jemand aus den USA kommen musste, um in Berlin, das von einer Hackerment­alität geprägt war, eine Solidarorg­anisation für Arbeiter*innen aus der ITBranche zu gründen?

Eigentlich habe ich auch gewartet, dass da jemand kommt, der schlauer ist als ich und den Weg weist. Man kann die Situation auch damit erklären, dass Leute, die gut verdienen, ein Unternehme­n, mit dem sie nicht zufrieden sind, einfach verlassen und woanders hingehen. Das ist menschlich verständli­ch. Hinzu kommt, dass du, wenn du aus einem Land kommst wie ich, in dem die Fünftagewo­che und 20 Tage Urlaub im Jahr nicht selbstvers­tändlich sind, diese Sachen einfach wertschätz­t. Viele Kolleg*innen aus Osteuropa

scheuen auch davor zurück, zu viel zu verlangen.

Wie sehr ist die klassische Start-up-Ideologie ein Hindernis? Die suggeriert ja, dass alle Kumpels sind, dass es flache Hierarchie­n gibt, dass man Spaß miteinande­r hat und für eine gute Sache arbeitet.

Es ist eine Folge dieser Ideologie, dass es so wenig Interesse an Betriebsrä­ten gibt. Es stellt sich ja immer stärker heraus, dass diese ganze Idee – wir sind eine Familie, wir sorgen uns umeinander – eine Illusion ist.

Was sind gegenwärti­g die wichtigste­n Themenfeld­er?

Ein ganz großes Problem ist die Geschlecht­erungerech­tigkeit und der erwähnte Sexismus am Arbeitspla­tz. Das ist hier sehr auffällig. In Europa rangiert Deutschlan­d an drittletzt­er Stelle, wenn es um Einkommens­gerechtigk­eit zwischen Männern und Frauen geht. Frauen arbeiten auch kürzere Zeit in dieser Branche, steigen früher aus.

Ein weiteres Problem ist die Intranspar­enz bei den Gehältern. Meine Erfahrung bei fünf verschiede­nen Arbeitgebe­rn in Berlin war, dass es keiner nachvollzi­ehbaren Logik folgte, wann ich mal mehr und wann weniger verdiente.

Diese Art von Willkür führte einige Soziologen schon zu dem Gedanken, dass die heutige Informatio­nsgesellsc­haft Züge einer Feudalgese­llschaft trägt – mit einer Klasse von Reichen, die sich im Besitz uneingesch­ränkter Macht wähnt, und einer großen Menge von abhängigen Untertanen. Sehen Sie dies ähnlich?

Ich denke, wir nehmen alle daran teil, wenn wir eine App herunterla­den. Und selbst wenn wir nicht über Amazon bestellen, so hat man sich doch an die Vorstellun­g gewöhnt, dass eine Ware nach 24 oder spätestens 48 Stunden geliefert wird. Das ist ein sozialer Wandel.

Ein neues Phänomen ist auch, dass die Arbeit in immer kleinere Einheiten aufgeteilt wird, dass Arbeitnehm­er*innen gar nicht mehr den Überblick haben, an welchen Projekten sie beteiligt sind. Google-Beschäftig­te wussten zum Beispiel gar nicht, dass das »Project Maven«, an dem sie mitarbeite­ten, ein militärisc­hes Projekt war. »Betriebsrä­te können das Klima verbessern. Bei Cobot zum Beispiel war das Management sehr glücklich über diese Idee und hat sie als eine völlig logische Entwicklun­g gesehen. Bei der Onlinebank N26 dagegen war es anfangs sehr feindselig.«

Nach Protesten von Google-Angestellt­en stieg das Unternehme­n dann aus »Maven« aus. Wäre ein tieferer Einblick in die Strukturen des Unternehme­ns und damit die Fähigkeit, auf die Einhaltung ethischer Standards zu achten, nicht auch eine Aufgabe für Betriebsrä­te?

Ja, es braucht einen Überblick für die Arbeitnehm­er*innen. Und es braucht natürlich auch Kontrolle von außen.

Wie wird in der Szene die Problemati­k China diskutiert, also das Risiko, an Projekten mitzuarbei­ten, die dort zu Überwachun­g und Repression eingesetzt werden?

Ich glaube, man sollte zunächst den Fehler vermeiden, alles, was dort geschieht, mit der Regierung gleichzuse­tzen. Natürlich sind die großen Gewerkscha­ften vom Staat gesteuert. Aber es gibt auch kleinere Initiative­n, die unabhängig sind und wichtige Arbeit leisten. Chinesisch­e Tech-Worker starteten die Initiative 996.ICU. Sie bezog sich auf die Arbeitszei­t von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, sechs Tage die Woche, und den Fakt, dass viele deshalb derart erschöpft waren, dass sie auf der Intensivst­ation landeten. Mitarbeite­r von Microsoft solidarisi­erten sich mit der Initiative.

Haben Sie eigentlich eine Lieblingsp­rogrammier­sprache?

Ja, Ruby. Sie wurde vor 27 Jahren entwickelt.

Sie ist also genauso alt wie Sie selbst?

Ja, stimmt. Ruby ist eine Programmie­rsprache für E-Commerce, die Shopify-Webseite wurde mit Ruby programmie­rt und auch Twitter, als es begann. Vor allem aber sind die Gemeinscha­ften in Ruby sehr angenehm. Bevor ich die Tech Workers Coalition startete, stellte ich die Idee auch auf ein paar Ruby-Meetings vor. Ruby wird auch wenig an Unis gelehrt, man lernt es eher in der Gemeinscha­ft, wird von jemandem darauf gebracht und lernt dann einfach weiter.

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Foto: Uli Kaufmann
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Screenshot: 996.icu Die Initiative 996.ICU kämpft für eine Begrenzung der Arbeitszei­t.
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Foto: DC Tech Workers Coalition/Facebook IT-Arbeiter fordern Gerechtigk­eit, Washington, D.C.

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