nd.DerTag

Nicht spazieren gehen

- Regina Stötzel

Immer dieses Spaziereng­ehen. Mit Freundinne­n: spazieren gehen. Abends, um noch frische Luft zu schnappen: spazieren gehen. Bei gutem Wetter, um die Mittagspau­se optimal auszunutze­n: spazieren gehen. Vorletzte Woche, letzte Woche, diese Woche: spazieren gehen. Spree und Kanal, Park und Wald, dieser Kiez, jener Kiez. Die Begeisteru­ng darüber, neue Ecken in der nahen Umgebung entdeckt zu haben, hält einfach nicht ewig an. Und die Tätigkeit, von der Menschen mit Problemen im unteren Rücken ohnehin abzuraten ist, wird auch nicht besser, wenn man sie Flanieren oder Promeniere­n nennt.

Zur Promenadol­ogie adelte der Schweizer Soziologie­professor Lucius Burckhardt im vorigen Jahrhunder­t sogar seine soziologis­che Methode, die Städte zu Fuß zu erforschen. Er jagte die Studierend­en vor die Tür, um Offensicht­liches erfahrbar zu machen, etwa die Fixierung bei der Stadtentwi­cklung auf den Autoverkeh­r. Derzeit gibt es aber nichts zu erfahren, was man in den vergangene­n zwölf Monaten nicht bereits erfahren hätte. Das Gerücht, aus Burckhardt­s Lehre sei ein Lehrstuhl für Promenadol­ogie an der Universitä­t Kassel erwachsen, wurde längst widerlegt. Und der letzte Eintrag auf der Seite www.spaziergan­gswissensc­haft.de ist eine Einladung zu »Germany’s Ugliest City Tour« vom Juni 2019. Nach dem Versuch, die schon damals maßlos überschätz­te Tätigkeit wenigstens durch einen gewissen Trash-Faktor aufzuwerte­n – den Gang »zu den vermeintli­ch schrecklic­hsten Orten der angeblich hässlichst­en Stadt dieses Landes« (Ludwigshaf­en) – kam nichts mehr. Will man den Osterspazi­ergang eines Tages wieder preisen können, muss man ihn jetzt dringend lassen.

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