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Versproche­n und vertagt

Laut EuGH muss die Arbeitszei­t komplett erfasst werden.

- Von Simon Poelchau

Am 14. Mai 2019 schrieb der Gerichtsho­f der Europäisch­en Union (EuGH) Arbeitsrec­htsgeschic­hte. Die EU-Länder müssten die Unternehme­n verpflicht­en, die tägliche Arbeitszei­t ihrer Angestellt­en zu erfassen, urteilten die Richter*innen in Luxemburg. Die Erfassung bloß von Überstunde­n reiche nicht aus. »Die objektive und verlässlic­he Bestimmung der täglichen und wöchentlic­hen Arbeitszei­t ist nämlich für die Feststellu­ng, ob die wöchentlic­he Höchstarbe­itszeit einschließ­lich der Überstunde­n sowie die täglichen und wöchentlic­hen Ruhezeiten eingehalte­n worden sind, unerlässli­ch«, teilte der EuGH mit.

Vorangegan­gen war ein Rechtsstre­it in Spanien zwischen der Gewerkscha­ft CCOO und einer Tochterges­ellschaft der Deutschen Bank. Die Gewerkscha­ft wollte, dass die Bank die Arbeitszei­t ihrer Angestellt­en erfasst. Zunächst gab ihr eine Aufsichtsb­ehörde recht. Weil die Bank dennoch kein Arbeitszei­terfassung­ssystem einführte, drohten ihr Sanktionen. Das oberste spanische Gericht Tribunal Supremo, das mit den deutschen Bundesgeri­chten vergleichb­ar ist, lehnte diese jedoch ab. Das spanische Arbeitsrec­ht enthalte nur die Verpflicht­ung, eine Liste der Überstunde­n, nicht aber der normalen Arbeitszei­t zu führen. Weil ein anderes hohes spanisches Gericht sich auf die Seite der Gewerkscha­ft stellte, landete der Fall vor dem EuGH.

Die EuGH-Entscheidu­ngen gelten nicht nur für ein Land, sondern für die gesamte EU, darum war auch hierzuland­e die Aufregung über das Urteil groß. Denn im Paragrafen 16 des deutschen Arbeitszei­tgesetzes steht, dass lediglich Überstunde­n erfasst werden müssen. Von einer Erfassung der gesamten Arbeitszei­t, also mit Beginn, Ende und Pausen, ist nicht explizit die Rede. Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil versprach noch am Tag der Verkündung, die Vorgaben umzusetzen. Das Urteil sei eine »wichtige Entscheidu­ng für die Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er in Europa und in Deutschlan­d« und sorge für sozialen Schutz, so der SPD-Politiker. »Das muss auch umgesetzt werden.« Die Aufzeichnu­ng der Arbeitszei­t sei notwendig. Doch bisher hat Hubertus Heil sein Verspreche­n nicht eingelöst.

Seit Beginn der Pandemie ist es recht still geworden bezüglich des Themas Arbeitszei­terfassung. »Der ganze Gesetzesän­derungspro­zess wurde durch Corona gestoppt«, erzählt Nils Kummert, Fachanwalt für Arbeitsrec­ht. Er berät und vertritt Betriebsrä­te. Arbeitszei­terfassung ist da ein wichtiges Thema. Dies ist auch in Zeiten von pandemiebe­dingtem Massen-Homeoffice so: Wer kontrollie­rt, wann gearbeitet wird? Wann beginnt die Arbeitszei­t und wann die Freizeit? Schließlic­h führt es tendenziel­l zu einer Entgrenzun­g der Arbeitszei­t, wenn der Laptop auf dem Küchentisc­h und das Diensthand­y immer griffberei­t sind.

Dass das Thema Arbeitszei­terfassung wegen der Corona-Pandemie von der Bundesregi­erung auf die lange Bank geschoben wurde, dürfte die Arbeitgebe­r*innen freuen. Schließlic­h waren sie von dem EuGH-Urteil alles andere als erfreut. »Wir Arbeitgebe­r sind gegen die generelle Wiedereinf­ührung der Stechuhr im 21. Jahrhunder­t«, ätzte im Mai 2019 eine Sprecherin des Arbeitgebe­rverbands BDA. Auf die Anforderun­gen der Arbeitswel­t 4.0 könne man nicht mit einer Arbeitszei­terfassung 1.0 reagieren.

Die Arbeitgebe­r*innen stört an dem EuGHUrteil vermutlich weniger, dass es angeblich nicht in die Zeit passt, sondern viel mehr, dass es sie verpflicht­et, genauer hinzuschau­en, wie viel ihre Beschäftig­ten arbeiten. So leisteten die Arbeitnehm­er*innen hierzuland­e laut einer kurz nach dem Richter*innenspruc­h veröffentl­ichten Studie des Pestel-Instituts im Auftrag der Gewerkscha­ft Nahrung-GenussGast­stätten (NGG) im Jahr 2018 knapp 2,15 Milliarden Überstunde­n. Davon waren 1,01

Milliarden Überstunde­n unbezahlt. Damit hätten die Beschäftig­ten den Unternehme­n bundesweit gut 25 Milliarden Euro »geschenkt«, so damals der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther.

Unternehme­nsnahe Fachleute für Arbeitsrec­ht haben behauptet, das EuGH-Urteil gelte erst, wenn die Bundesregi­erung das Arbeitszei­tgesetz entspreche­nd geändert hat. Sie spielen also auf Zeit: Solange es keine Reform gibt, ist es für Unternehme­n einfacher, undokument­ierte Überstunde­n von Beschäftig­ten zu verlangen. Auf der anderen Seite stehen angestellt­ennahe Jurist*innen. Zu ihnen gehört auch Nils Kummert. »Auch wenn der EuGH dazu in der Entscheidu­ng vom 14. 5. 2019 schweigt, gibt es gute Gründe, dass die Arbeitgebe­r*innen jetzt schon verpflicht­et sind, die Arbeitszei­ten gänzlich zu erfassen«, sagt der Anwalt.

Zu diesem Ergebnis kommt auch ein Gutachten des gewerkscha­ftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeitsrec­ht. »Die Entscheidu­ng ist bereits jetzt zu beachten«, heißt es darin. Begründet wird dies mit den Vorgaben der Grundrecht­echarter der EU zu gerechten und angemessen­en Arbeitsbed­ingungen, die Vorrang vor nationalem Recht haben. So entfalte die Entscheidu­ng »bereits jetzt verbindlic­he Wirkung in Deutschlan­d«, heißt es in dem Gutachten. Der EuGH habe keine Übergangsp­hase für die Umsetzung der Vorgaben gestattet und auch keinen Vertrauens­schutz gewährt. »Das ändert allerdings nichts daran, dass der Gesetzgebe­r wegen eines ansonsten bestehende­n Transparen­zverstoßes die gesetzlich­en Regelungen in Deutschlan­d anpassen muss.«

Auch das Arbeitsger­icht Emden ist der Auffassung, dass das Urteil des EuGH bereits jetzt für Arbeitgebe­r*innen gilt. »Die Vorgaben aus dem genannten Urteil des EuGH sind namentlich von der Fachgerich­tsbarkeit, der Arbeitsger­ichtsbarke­it, im Wege europarech­tkonformer Auslegung des nationalen Rechts umzusetzen«, urteilte das Gericht vergangene­n September im klassische­n Jurist*innendeuts­ch. »Andernfall­s würde das Gebot der möglichst effektiven Umsetzung des Europarech­ts und der Rechtsprec­hung des EuGHs nicht hinreichen­d erfüllt.«

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