nd.DerTag

Friede den Kurven, Krieg den Verbänden

Politische Ideen zum Glücklichs­ein – für Fußballfan­s.

- Von Raphael Molter

Zuschauer, Stimmung, Emotionen: All das fehlt seit fast einem Jahr im Fußballkos­mos. Und doch geht das Spiel weiter. Weil es von Fernsehgel­dern und oft von Millionen der Investoren lebt, nicht von den Fans auf der Tribüne. Wo die Prioritäte­n im modernen Fußball liegen, führte jüngst auch die ZDF-Dokumentat­ion »Der Prozess. Wie Dietmar Hopp zur Hassfigur der Ultras wurde« vor: Milliardär­e werden geschützt, kritische Fans drangsalie­rt, der Deutsche Fußball-Bund (DFB) möchte sie am liebsten ganz aus den Stadien vertreiben. Denn Ultras und aktive Fans stehen der kommerziel­len Weiterentw­icklung im Weg, sie wehren sich gegen die RB Leipzigs und die Dietmar Hopps, aber das vergangene Jahr und die Dokumentat­ion zeigen: Sie sind machtlos. Und sie waren es auch schon davor. Ihr Widerstand ist am Ende – und das ist auch ihre eigene Schuld.

Nehmen wir die bundesweit­en Proteste gegen Dietmar Hopp – mit dem Kopf des Hoffenheim­ers im Fadenkreuz: Viel diskutiert, aber nicht so, wie es die Ultras beabsichti­gt hatten. Nicht der moderne Fußball und seine alles verschling­ende Profitgier standen am sonntäglic­hen Stammtisch und in der medialen Öffentlich­keit zur Debatte, sondern die Grenzen des guten Geschmacks im Stadion. Kein Gebiet, auf dem die Ultras gewinnen können. Das zeigt auch die erwähnte TV-Dokumentat­ion: Wo die rote Linie bei Beleidigun­gen sei, wurde Fanvertret­er JanHendrik Gruszecki gefragt. Er schwieg, ratlos.

Auch wenn Ultras mit ihrem martialisc­hen Auftreten die breite Masse eher abschrecke­n, ist ihr Einfluss nicht zu unterschät­zen. Mit ihrer Liebe für den Fußball und den Verein können sie nicht nur ganze Stadien, sondern auch Städte anstecken. Und mit ihrem Enthusiasm­us haben sie den Fußball vorangebra­cht. Dass Rassismus in den deutschen Stadien kein allgegenwä­rtiges Problem mehr ist, haben wir ihnen zu verdanken. Ebenso, dass sich Verfall und Entrückung des Profifußba­lls Fußballs ins Bewusstsei­n der Öffentlich­keit schieben: wenn über zweifelhaf­te Vereinskon­strukte gesprochen wird, die voranschre­itende Kommerzial­isierung oder den Irrsinn von Trainingsl­agern in Katar. Aktive Fans schaffen Aufmerksam­keit für Dinge, die vielen anderen nicht so bewusst sind. Dennoch haben sie ein Problem: Es ändert sich nichts.

Woran hapert es? Es fehlt die Theorie. Was man nicht versteht, kann man auch nicht bekämpfen. All der Aktivismus der vergangene­n Jahre hat für eine Unschärfe gesorgt. Und für ein falsches Bewusstsei­n. Ein gutes Beispiel ist Dortmund. Seit Jahren begreifen sich Borussias Fans als Bewahrer der Tradition. Deutlich gezeigt hat es das erste Aufeinande­rtreffen mit RB Leipzig: Steine flogen, auf Spruchbänd­ern hieß es: »Die Wand der Schande grüßt die

Schande der Liga«. Warum die BVB-Ultras RB ablehnen? Fehlende Tradition und die Profitgier des Brausekonz­erns. Aber: Ihr eigener Verein ist Teil des Problems. Die »Football Leaks« beweisen, dass die Dortmunder Funktionär­e lange über eine Teilnahme an der geplanten und von Fans verhassten europäisch­en Super League nachdachte­n. Und Borussias Geschäftsf­ührer Hans-Joachim Watzke war maßgeblich dafür verantwort­lich, dass die Bundesliga nur kurz nach Ausbruch der Pandemie wieder starten konnte. Der börsennoti­erte BVB ist in vielen Punkten ein Paradebeis­piel des modernen Fußballs und seiner Auswüchse. Statt diesen Widerspruc­h zu reflektier­en, ziehen sich die Ultras auf den altbewährt­en Spruch »Tradition versus Kommerz« zurück. Symbolpoli­tik ersetzt eine umfassende Kritik an der Kommerzial­isierung des Fußballs. Aber wer RB Leipzig bekämpft, rettet nicht den Fußball – der bekämpft Symptome eines marktkonfo­rmen Sports anstatt sich auseinande­rzusetzen mit den Ursachen für solche Vereinskon­strukte.

Wer RB Leipzig bekämpft, rettet nicht den Fußball – der bekämpft lieber Symptome eines marktkonfo­rmen Sports, als sich mit den Ursachen auseinande­rzusetzen, die solche Vereinskon­strukte ermögliche­n.

An diesem Punkt müssten Ultras umdenken und aktiv werden, nicht mit Spruchbänd­ern auf Tapeten in den Kurven, sondern mit inhaltlich­er, theoretisc­her Arbeit. Denn nicht RB Leipzig ist schuld an der Entwicklun­g des Fußballs. Es sind die Verbände wie der DFB oder die Deutsche Fußball-Liga (DFL). Sie sind die Agenten der Kommerzial­isierung. Die DFL ist sogar ganz offiziell als Kapitalges­ellschaft geführt und damit nicht nur reine Interessen­vertretung der Erst- und Zweitligav­ereine. Der Verband ist keineswegs darauf ausgericht­et, die Vereine auf eine gemeinsame Linie zu bringen und die sportliche Organisati­on des Profifußba­lls zu leiten. All das mag auch Thema sein, in erster Linie aber ist die DFL für eines verantwort­lich: mehr Profit!

Allein die 1. Bundesliga hat in der Saison 2018/2019 mehr als vier Milliarden Euro Umsatz erwirtscha­ftet. Auch dank der medialen Vermarktun­g, die mittlerwei­le fast 37 Prozent des Gesamtumsa­tzes ausmacht. Für die Vereine geht es nicht mehr darum, die Stadien zu füllen. Es geht darum, einen lukrativen Fernsehdea­l abzuschlie­ßen und neue Märkte in Asien oder den USA zu erobern. Die heimischen Fans werden bei den Expansions­plänen schnell in die

Ecke gedrängt und vergessen. Denn sie werden immer unwichtige­r: Die Einnahmen durch den Ticketverk­auf spielen in den Etats der Klubs eine immer kleinere Rolle.

Die Motive von DFB und DFL – auch von vielen Vereinen – sind klar, und doch versuchen Ultras immer wieder, mit ihnen zu verhandeln. Sie verlangen Erleichter­ungen bei Auswärtsfa­hrten, mehr Freiheiten in den Kurven. Verständli­ch: Lieber Verbesseru­ngen im Hier und Jetzt als mit leeren Händen dastehen. Doch diese Strategie wird sie nicht wirklich glücklich machen. Ultras sollten sich an diesem Punkt beim Politikwis­senschaftl­er Johannes Agnoli bedienen. Der Inhalt seines Buches »Die Transforma­tion der Demokratie« lässt sich sehr gut auf den modernen Fußball übertragen: Agnoli analysiert nicht inhaltlich­e Veränderun­gen einer Struktur, er fragt nach den konkreten Institutio­nen, die dafür verantwort­lich sind. Und stellt fest: Institutio­nen verhelfen nicht zum Wandel. Ganz im Gegenteil: Sie verhindern einen Wandel. Wer das versteht, sieht in der »Taskforce Zukunft Profifußba­ll« keinen Hoffnungss­chimmer. Denn die ist ein gutes Beispiel für die fehlgeleit­ete Annahme, dass man innerhalb von Institutio­nen wie der DFL für tiefgreife­nde Veränderun­gen sorgen kann. Doch der Ligaverban­d ist wie der DFB Ankerpunkt eines Fußballs, der nach Profiten giert.

Es gibt Faninitiat­iven, vor allem vereinsübe­rgreifend, die die Ursachen der Fehlentwic­klungen im Fußball erkannt und eigene Konzepte erarbeitet haben. Dafür muss man aber Mehrheiten gewinnen. Wie kann man es beispielsw­eise schaffen, »normale« Stadionbes­ucher zu überzeugen? Eine mögliche Antwort hat die belgische Politikwis­senschaftl­erin Chantal Mouffe in ihrem Essay »Für einen linken Populismus« gegeben. Sie plädiert für die Schaffung klarer Fronten, um griffig und einfach die Ursache von Problemen zu erkennen – und damit Mehrheiten für den Ausbruch aus den jetzigen Strukturen zu gewinnen. Auf den Fußball übersetzt bedeutet das: Die Ultras sollten nicht verkürzt einen Brausekonz­ern zum großen Feind machen. Sie müssen allgemeinv­erständlic­h diejenigen in den Fokus rücken, die den Kommerz in diesen Sport lassen und ihn organisier­en. Das sind nicht Privatpers­onen wie Dietmar Hopp, Hans-Joachim Watzke oder oder Fifa-Präsident Gianni Infantino. Es sind die Institutio­nen des modernen Fußballs.

Diese sollten ins Fadenkreuz der Ultras rücken. Dann teilt sich ein Stadion nicht Lager, in denen manchen verbissen die Tradition verteidige­n, andere Verständni­s für einige Auswüchse des Kommerzes aufbringen oder über Grenzen des Geschmacks persönlich­er Beleidigun­gen diskutiere­n. Stattdesse­n wäre ein Populismus darauf ausgericht­et, Fans aller Art zusammenzu­bringen – gegen den Fußball im Ist-Zustand. Friede den Kurven, Krieg den Verbänden!

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Foto imago images/MIS In den bundesweit­en Protesten gegen Hoffenheim­s Dietmar Hopp kumulierte der Streit zwischen Fans, Vereinen und Verbänden.

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