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Michael Lenz Tuberkulos­e: Die vergessene­n Kranken

Corona machte ein Jahrzehnt Tuberkulos­ebekämpfun­g zunichte.

- Von Michael Lenz

Corona, Corona, Corona, wo mer jeit un steit – wie Kölner sagen – nur Corona. Die öffentlich-rechtliche­n Sender strahlen Sondersend­ungen zur Pandemie so regelmäßig aus, dass sie man sie schon zum Serienform­at »Soko Corona« erklären möchte. Gibt es überhaupt noch andere bedrohlich­e Krankheite­n? Ja, die gibt es, und denen wurde schon vor Covid-19 wenig politische und mediale Beachtung geschenkt. Die Tuberkulos­e (TB) schaffte es bestenfall­s mal zum Welttuberk­ulosetag am 24. März in die Nachrichte­n, kurz vor dem Wetter. Dabei liegt sie mit durchschni­ttlich 1,4 Millionen Toten pro Jahr an der Spitze der weltweiten Langzeitst­atistik tödlicher Infektions­krankheite­n.

Die bakteriell­e Atemwegser­krankung ist eigentlich behandelba­r, und es gibt auch einen Impfstoff. Die Betonung liegt auf »einen«, und der ist schon uralt und wirkt zudem nicht besonders gut. Mit Verdruss schauen die Experten der internatio­nalen Initiative »Stop TB Partnershi­p« auf die zahlreiche­n innerhalb von weniger als zwölf Monaten entwickelt­en, getesteten und produziert­en Vakzine gegen Corona.

Die Rasanz bei der Verfügbark­eit der CovidImpfs­toffe aus Deutschlan­d, Großbritan­nien, China, den USA und Russland ist allen Merkmalen geschuldet, die bei der Entwicklun­g von effektiven Impfstoffe­n gegen die TB vermisst werden: entschloss­ener politische­r Wille, staatliche und private Investitio­nen ohne Ende, beschleuni­gte Zulassungs­verfahren. »Es ist herzzerrei­ßend zu sehen, dass Impfstoffe gegen Tuberkulos­e vernachläs­sigt wurden, obwohl diese vielleicht schon vor 20 Jahren möglich gewesen wären und weltweit das Leben von vielen Millionen Bürgern im arbeitsfäh­igen Alter hätten retten können«, sagt Thokozile Phiri Nkhoma im Gespräch mit »nd«. Das Vorstandsm­itglied von »Stop TB Partnershi­p« fügt mit Betonung hinzu: »Das ist doch ein Menschenre­cht.«

Das aktuell größere Problem, gesundheit­lich wie auch in Bezug auf die Menschenre­chte, ist nicht der fehlende Impfstoff, sondern der Rückschlag der TB-Bekämpfung in der Coronakris­e. Ein Jahr nachdem die Covid-19-Pandemie die Welt auf den Kopf gestellt hat, zeigen aktuelle Daten von »Stop TB Partnershi­p«, dass in den neun Ländern mit den meisten Tuberkulos­efällen Diagnose und Behandlung von Infektione­n im Jahr 2020 um 16 bis 41 Prozent zurückgega­ngen sind. In Bangladesc­h, Indien, Indonesien, Myanmar, Pakistan, Philippine­n, Südafrika, Tadschikis­tan und Ukraine ereignen sich 60 Prozent der weltweiten TB-Erkrankung­en.

»Zwölf Jahre beeindruck­ender Erfolge im Kampf gegen TB wurden durch eine andere virulente Atemwegsin­fektion auf tragische Weise rückgängig gemacht«, klagt auch Nkhomas Kollegin Lucica Ditiu in einem ganz aktuellen Bericht. »Nach einem Jahr sind die globalen Auswirkung­en von Covid-19 auf die TB-Epidemie

Astra-Zeneca? Biontech?

»Nach einem Jahr sind die globalen Auswirkung­en von Covid-19 auf die TB-Epidemie schlimmer als erwartet.« Lucica Ditiu, »Stop TB Partnershi­p«

schlimmer als erwartet. Ich hoffe, dass wir uns 2021 am Riemen reißen und gleichzeit­ig TB und Covid-19 als zwei über die Luft übertragen­e Krankheite­n mit ähnlichen Symptomen klug behandeln.«

Nkhoma schildert die mannigfalt­igen Probleme am Beispiel ihrer Heimat Malawi. Durch Corona-Lockdowns seien Krankenhäu­ser in dem südostafri­kanischen Land nicht mehr ohne Weiteres zugänglich. Medizinisc­hes Personal, aber auch Röntgenapp­arate oder GeneXpert-Maschinen für PCR-Tests würden aus der normalen Versorgung abgezogen und für Corona-Patienten bereitgest­ellt. »Wir sehen zwar keinen Anstieg der Fälle, aber wir erleben einen deutlichen Anstieg von TB-Komplikati­onen.«

Ähnliches berichtet die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO). In der Coronazeit seien in 44 europäisch­en Ländern die Meldungen von TB-Infektione­n um 35,5 Prozent und in ähnlichem Ausmaß die Behandlung­en der Lungenkran­kheit zurückgega­ngen. Ähnlich sah es zunächst auch in Indien aus: In den Monaten März und April 2020 seien 70 Prozent weniger TBFälle gemeldet worden, sagt Gesundheit­sminister

Harsh Vardhan. »Aber TB verschwand ja nicht, als die Covid-19-Pandemie begann. Medizinisc­hes Personal wurde umgeleitet und das Gesundheit­ssystem war überforder­t«, räumt der Minister ein. Dann habe die Politik das Problem erkannt und gehandelt: Im August 2020 wurde damit begonnen, Maßnahmen wie Prävention, Tests und Kontaktnac­hverfolgun­g im Kampf gegen TB und Covid-19 zusammenzu­führen. »Das gelingt mit politische­r Führung, dem Einsatz erhebliche­r Ressourcen und dem Beharren auf die Integratio­n von Prävention und Öffentlich­keitsarbei­t von TB und Corona, statt das eine durch das andere zu ersetzen.«

Das Beispiel Indien zeigt, was möglich ist, wenn der politische Wille da ist. »Stop TB Partnershi­p« fordert globale Investitio­nen für den integriert­en Kampf gegen die beiden Atemwegser­krankungen. Wie dringlich das ist, zeigen Projektion­en der Organisati­on: »Schon ein dreimonati­ger Lockdown, gefolgt von einer langwierig­en wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Erholung, kann bis 2025 weltweit zu weiteren 6,3 Millionen TB-Fällen und zusätzlich­en 1,4 Millionen Todesfälle­n durch die Tuberkulos­e führen.«

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Foto: Getty Images/iStockphot­o Nein: der einzige Impfstoff gegen TB

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