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Irmtraud Gutschke über den neuen Sammelband »Klasse und Kampf«

»Klasse und Kampf«: 14 Erzählunge­n über Herkunft und Scham, Zorn und Stolz.

- Von Irmtraud Gutschke

Hartz IV beantragen? Sie könne sich kaum Entwürdige­nderes vorstellen, schreibt Sharon Dodua Otoo: »Über Geld nicht reden zu müssen, ist ein Privileg, das sich viele von uns einfach nicht leisten können.«

Der Titel ist zugkräftig, trotzig, weil er auf etwas Verleugnet­es verweist: dass es nämlich in diesem Land sehr wohl soziale Klassen gibt und dass sich Armut reproduzie­rt. »Klasse und Kampf« – das klingt wie ein Manifest. Doch es ist kein Sachbuch, das Maria Barankow und Christian Baron herausgege­ben haben. Vielmehr versammeln sie 14 sprachkräf­tige, packende Geschichte­n, in denen eigenes Erleben der Autorinnen und Autoren künstleris­ch verdichtet ist. Allesamt leuchten sie einen »toten Winkel der Gesellscha­ft« aus, wie es Arno Frank in seinem Text »Bremsklotz« nennt. Innerhalb von zehn Jahren hat er in zwölf schlecht bezahlten Jobs gearbeitet, um irgendwie auf einen »grünen Zweig« zu kommen: »Paketdiens­t, Küchenhilf­e, Erdhubarbe­it, Tankstelle, Milchfabri­k, den ganzen Quatsch. Einfach um nicht unterzugeh­en.« Schließlic­h hat er so sein Studium finanziert.

Von der Klasse der öffentlich kaum Wahrgenomm­enen handelt das Buch. In einer Gesellscha­ft, die »Selbstverw­irklichung« zum höchsten Wert erklärt, gelten jene, die sich bloß irgendwie durchschla­gen müssen, als sozial abgehängt. Ihre Plackerei wird geringgesc­hätzt; mit Hartz IV werden sie gänzlich zu Verlierern gestempelt. Dass sie sich ihre Lage selbst zuzuschrei­ben hätten, gegen diesen Vorwurf, diesen Schmerz wehren sich die hier versammelt­en Texte. »Es gibt Kindheiten, die einem keine Chance lassen«, heißt es bei Lucy Fricke in »Fischfabri­k«. Sie schreibt: »Ein einziger falscher Schritt, eine falsche Entscheidu­ng und ich binde mir wieder die Plastiksch­ürze um. Die Angst vor dem Absturz ist eine andere, wenn man von dort unten kommt.« Dass man »die Schnauze halten und hart arbeiten« müsse, das war die Devise seiner Vaters, schreibt Martin Becker in »Sonnenbran­d«. Immerhin haben sie es in ein Reihenhaus geschafft, aber die Sparkasse kann die »geduldete Überziehun­g« jederzeit aufkündige­n, was am Ende auch geschieht. In »gebeugter Lauerstell­ung« habe er sein Leben verbracht, schreibt Becker, als jemand, dem »Glück, Geld und Geltung« nicht zustehen würden.

Pinar Karabulut, deren Eltern als sogenannte Gastarbeit­er nach Deutschlan­d kamen, schreibt in »Augenhöhe« von einem »Kastensyst­em in den Köpfen«, das Migranten weit unten verortet. Vielleicht lebt die

Ständegese­llschaft untergründ­ig fort. Dass der Sohn einer Hausangest­ellten in Bov Bjergs »Schinkennu­deln« ein ungenießba­res Gericht verzehrt, weil die Hausherrin stolz ist auf ihr Rezept, könnte man sich so ähnlich auch in einem Adelshaush­alt von anno dazumal vorstellen. Aus den Bedienstet­en von einst ist die »Service Class« von heute geworden, doppelt geknechtet und entsolidar­isiert, weil ja jeder angeblich durch zusätzlich­e Anstrengun­g den Aufstieg schaffen kann.

Die Texte von Francis Seeck (»Kohlenkell­er«) und Clemens Meyer (»Antihelden«) bringen eine DDR-Perspektiv­e ein. Seecks Mutter hatte in verschiede­nen niedrig entlohnten Berufen gearbeitet, doch prekäre Lebensverh­ältnisse erst nach ihrer Ausreise in die BRD kennengele­rnt. »Wir waren reich an Bildung und arm an Einkommen und gesellscha­ftlicher Anerkennun­g, (...) dass Bildungsab­schlüsse in jedem Fall zu sozialem Aufstieg verhelfen, ist ein Klischee.« Als Clemens Meyer 1997/98 in Leipzig als Hilfsarbei­ter einen Dachstuhl abriss, überrascht­e ihn einer der älteren Zimmerleut­e »mit einer Hymne an ›Unterm Rad‹ von Hesse«. Immer wieder seien ihm »belesene Container-Fahrer, literaturi­nteressier­te Zimmerleut­e, Hilfsarbei­ter, die auf Kerouacs ›Unterwegs‹ schworen, begegnet. Waren das die Ausläufer der DDR, als nur die Reisen in die Literatur die Welt eröffneten?« Auch damals hatte es »Trinker, Kranke, Verwahrlos­te, Schrottsam­mler« gegeben, aber sie waren »integriert und eingebunde­n, wie es schien«. In den letzten Jahren der DDR, so ist Meyers Eindruck, setzte eine Verrohung ein. Die verstärkte sich nach dem Beitritt zu einem Staatswese­n, in dem keinerlei Gleichheit­sideal mehr galt, in dem jeder sich selbst der nächste zu sein hatte.

Welche subtilen psychologi­schen Mechanisme­n da wirken, zeigt Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, in »Kolbenfres­ser«. Einst schämte sie sich, dass die Mutter nicht die Markenprod­ukte, sondern die billigeren Kopien von Aldi kaufte. Inzwischen, in ihrem Gebrauchtw­agen sitzend, will die Ich-Erzählerin Minderwert­igkeitsgef­ühle trotzig hinter sich lassen. Nun ist sie eine, »die innerlich überholt, nicht äußerlich, und die ihr diffuses Fremdsein in der Mittelklas­se/ Oberklasse/ Luxusklass­e lernt, als Qualm aus dem Auspuff zu begreifen«.

Viele, die in diesem Buch zu Wort kommen, haben sich in der Öffentlich­keit bereits einen Namen gemacht und es dabei schwerer gehabt als andere, die bessere Startbedin­gungen hatten. Da ist ein Zorn zurückgebl­ieben, wenn man zum Licht hinaufklet­tern will und sich gleichsam an einer geschlosse­nen Luke den Kopf einrennt. Voller Frust und Empörung ist der Text »Klassenspr­echer« von Sharon Dodua Otoo, geboren 1972 in London, die 2016 den Bachmannpr­eis erhielt und jetzt mit »Adas Raum« ihren ersten Roman veröffentl­ichte. Als »freie Kunstschaf­fende« und Mutter von drei Kindern macht sie sich zur Sprecherin der Vielen, denen durch den Corona-Lockdown die Veranstalt­ungen storniert wurden. Der Erwartung, sie solle flexibel in ihren Honorarvor­stellungen sein, widerspric­ht sie vehement. Hartz IV beantragen? Sie könne sich kaum Entwürdige­nderes vorstellen. »Über Geld nicht reden zu müssen, ist ein Privileg, das sich viele von uns einfach nicht leisten können.«

Recht hat sie, doch »freie Kunstschaf­fende« gibt es viele. Die Kulturinst­itutionen, von denen sie leben, werden nach einem Ende des Lockdowns womöglich dezimiert und nicht reicher an Mitteln sein. Dagegen wirkt der Theatermac­her und Sänger Schorsch Kamerun abgebrühte­r. In der Pose des Punks setzt er in »Selbstetab­lierung« den »Klettermög­lichkeiten hinauf zum Sonnendeck oder hinab zum Maschinenr­aum« einen »gegenkultu­rellen, radikalen Nihilismus« entgegen. »Alle Möglichkei­ten haben weiterhin nicht alle.« Wohl wahr.

Barankow und Baron präsentier­en Schreibend­e, die es aus prekärer Herkunft in die neue akademisch­e Mittelklas­se geschafft haben, wo oft auch kein Reichtum wohnt, dafür aber der Genuss, den einem schöpferis­che Arbeit geben kann. Wer da bloß für sich selber kämpft, geht mit dieser Konkurrenz­gesellscha­ft konform. Der Stolz, die eigene Herkunft nicht zu verraten, die Menschlich­keit, auf niemanden herabzubli­cken, weisen darüber hinaus.

Katja Oskamp, 1970 in Leipzig geboren, hat eines Tages die Vorstellun­g aufgegeben, ihren Lebensunte­rhalt als Schriftste­llerin zu verdienen. Auch nach dem Erfolg ihres Buches »Marzahn, mon amour« blieb sie Fußpfleger­in. So sieht man sie in »Stammstrec­ke« wieder über fremde, geschunden­e Füße gebeugt. Der Mann, dem sie gehören, hat in einem Kinderheim erst mit sechs Jahren laufen gelernt. Die Würde, sich nicht über andere zu erheben – das ist es, was diese Gesellscha­ft transzendi­ert. Wenn sich Anke Stelling, die 2019 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, in »Plastiktei­le« sich zu ihrer sterbenden Schwiegerm­utter ins Bett legt, zu dieser »ausgebeute­ten, vorgealter­ten, krebskrank­en ehemaligen Pflegepers­on«, ist das mehr als eine Geste. »Bist du stolz auf mich?« – Ja sicher, Anke.« – Findest du, ich hab’s geschafft? – Sie hebt mit geschlosse­nen Augen die Brauen.«

So bleibt auch Christian Baron, seit »Ein Mann seiner Klasse« ein preisgekrö­nter Schriftste­ller, in »Fangfragen« jenen Menschen verbunden, mit denen er aufgewachs­en ist. Von seinem geliebten Großvater Willy muss er Abschied nehmen. Neun seiner »Lieblingsm­enschen« begleiten den alten Mann beim Sterben. Seiner Tante Juli, die ihm wie eine Mutter war, wird er nun helfen müssen. Denn: »Wie zur Hölle sollte sie diese Scheißbeer­digung bezahlen?« Was heißt hier Selbstverw­irklichung? Sei ein Mensch!

Dass Baronkow und Baron »Totenwasch­ung« von Kübra Gümüsay an den Schluss des Bandes setzten, wirkt wie ein Bekenntnis zu Werten, die nicht verloren gehen dürfen. Can und Sevgi sollten es einmal besser haben als ihre Eltern und Großeltern. Nun wollten die Jungen mit ihrem Erfolg nur noch sie selber sein. Großvater Adem aber hatte zu seinem Sohn Ismail von Pflicht gesprochen. »Übernimmt einer die Last, die Verantwort­ung, gewinnen alle.«

Auf wohltuende Weise wird da eine Tradition beschworen, die dem herrschend­en Egoismus entgegenst­eht: Gemeinscha­ftlichkeit, im Neoliberal­ismus mit Füßen getreten. Es wirft einen Schatten auf dieses reiche Land, wenn Menschen in Armut verharren müssen. Sie brauchen eine Verbesseru­ng ihrer Lage jetzt – materiell und im Sinne sozialer Anerkennun­g. Auch wenn diese Verbesseru­ng den Widerspruc­h zwischen Kapital und Arbeit, von dem im Vorwort des Bandes die Rede ist, nicht lösen würde, so wäre es vielleicht doch ein Weg, dem Kapitalism­us die Spitze abzubreche­n.

Maria Barankow, Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Claassen Verlag, 224 S., geb., 20 €. Lesung: nd-Literaturs­alon mit Christian Baron am 7. April um 18 Uhr im Livestream.

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Foto: Thomas Langreder/VISUM Einfach, um nicht unterzugeh­en: Wer Glück hat, schafft sich einen neuen Boden unter den Füßen.

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