Olga Romanowa im Interview über Russland, Nawalny und Putin
Olga Romanowa erklärt, warum ausgerechnet die Verhaftung Nawalnys die Massen auf die Straße bringt
Olga Romanowa,
Jahres.
Aus dem Russischen von Swetlana Müller und Mario Pschera.
Nawalny hat zwei außergewöhnliche Dinge getan: Er hat die sakrale Aura von Putin zerstört. Wir sahen plötzlich den kleinen, den gewöhnlichen Putin. Das ist noch nie passiert. Wir hatten immer Angst, uns einzugestehen, dass Putin ein gewöhnlicher Mensch ist. Nawalny hat ihn «Väterchen Bunker« (in Analogie zu Väterchen Frost – mps) genannt. Das sind ganz einfache Worte, die allen gezeigt haben, dass Putin ein altmodischer Mensch ist, der die Welt von heute nicht versteht und Angst hat. Und das zweite, was er getan hat, war, dass Nawalny ein biblisches Opfer gebracht hat. Russland wurde gewaltsam christianisiert, dazu gehört die Gewaltgeschichte von Golgatha und der Auferstehung. Heute kehrt sie sich um: Erst ist »Er« auferstanden, dann ging »Er« den GolgathaWeg. Nun sehen wir »Ihn« auf dem Berg von Golgatha, wir hören sogar »Seine« Stimme. Und »Er« spricht zu uns, »Er« sei bereit zu sterben, sich für uns zu opfern. Wow! Wir sehen den winzigen Putin und dazu Nawalny auf Golgatha. Das ist eine neue Situation. Selbst wenn die Menschen das nicht mit dem Verstand erfassen, fühlen sie das. Schau dir an, wie Nawalny mit den russischen Gerichten umgeht. Wenn es die nächste Gerichtsverhandlung gibt, warten wir darauf wie auf eine Theaterpremiere. Das ist literarisch, das ist unterhaltsam, kühn und scharfsinnig. Das hat bisher noch niemand so gewagt.
Woher rührt der Nimbus von Putin als dem Unbesiegbaren, dem Macher, der Russland nach Jelzin wieder zu neuer Größe geführt hat?
Kürzlich erschienen die Memoiren einiger Politikberater, die Putin zum Durchbruch verholfen hatten. Ich arbeitete damals als Journalistin, dennoch habe ich mich erst durch diese Bücher wieder an einiges erinnert. In den 90ern wurde eine umfangreiche soziologische Studie durchgeführt, welchem der großen historischen Helden der künftige Präsident am ehesten entsprechen sollte. Auf dem dritten Platz war natürlich Stalin, auf dem zweiten Platz Peter I., auf dem ersten Platz überraschenderweise Stirlitz.
Den man, weil hierzulande nicht bekannt, erklären muss.
Ab den 1970er Jahren wurde eine Filmreihe über einen sowjetischen Agenten gedreht, der in Deutschland Karriere machte und erfolgreich im Führungskreis um Hitler operierte. Stirlitz ist der Prototyp aller russischen Agenten, ein sowjetischer James Bond, nur viel cooler. Der nicht wie Bond nur mit Mädchen rummachte. Stirlitz konnte man wirklich ernst nehmen.
Die Tochter von Jelzin hat dann jemanden gesucht, der das alles irgendwie in einer Person verkörpern sollte: Petersburg mit Peter I., das Sowjetische und den Geheimagenten. Putin war das alles nicht, er konnte da nicht mithalten. Weil er klein war und kein richtiger Agent, sondern nur ein KGBBüroangestellter.
Trotzdem hat man in ihm diese drei Legenden vereinigt. Und dann hat er Tschetschenien besiegt, sich mit nacktem Oberkörper fotografieren lassen – wie eine Gay-Ikone –, er flog sozusagen mit den Kranichen (mit einem Motordrachen) und holte antike Amphoren vom Meeresboden.Vor allem betonte er, dass er die Tschetschenen besiegt habe. Leider nicht in echt, eigentlich haben die Tschetschenen uns besiegt. (Präsident Kadyrow genießt trotz terroristischer Anschläge in Russland Straffreiheit und faktische Autonomie–mps) Nicht zu vergessen: der Ölpreis, hundert Dollar für das Barrel. Damit begann das Jahrzehnt, das man das Jahrzehnt des Putinschen Glamours nannte. Es war für Russland bislang die beste Zeit, so etwas hatte es noch nicht erlebt. Das ging etwa von 2001 bis 2010. Putin konnte machen, was er wollte, jeder dachte, zum Teufel mit der Meinungsfreiheit, wenn die Gehälter steigen, es alles zu kaufen gibt und wir überall hinreisen können. Niemand hat das mit der Weltkonjunktur in Verbindung gebracht, alle dachten, das wäre Putins Verdienst. Er besiegte sämtliche Feinde Russlands – wobei das keine Feinde, sondern Russlands Bürger waren – und er hat alle reich gemacht. Dass er Chodorkowski eingesperrt und ein paar TV-Kanäle dichtgemacht hat, schien kein großes Problem zu sein.
Ein wichtiger Baustein für den Mythos Putin war seine Ansage, dass er die Macht der Oligarchen eindämmen will.
Das hat er tatsächlich getan. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es in Russland ein kleines und mittleres Privatunternehmertum, aus dem die Oligarchie erwuchs. In den ersten zehn Putin-Jahren ist dieses Unternehmertum faktisch verschwunden. Entweder erhielt der Staat einen großen Anteil an privaten Firmen oder sie wurden gleich verstaatlicht, wie fast alle großen Banken. Die neue Oligarchie kam aus dem KGB, sie löste die alte ab, Putin hat einfach die Personen ausgetauscht. Unter Jelzin waren es die »Roten Direktoren«, die mit dem Vermögen der alten Staatsbetriebe zu Oligarchen wurden. Putin hat das rückgängig gemacht, er hat das Vermögen der Oligarchen den neuen, staatlich bestellten »Roten Direktoren« übergeben. Sie sind natürlich keine »Roten«, keine sowjetischen Direktoren mehr, sondern »Himbeer-Direktoren«. Nach der Farbe der Mützenlitze der KGB-Uniformen.
Im Westen hatte man den Machtkampf zwischen den verschiedenen Gruppen personalisiert, auf den zwischen Putin und Chodorkowski reduziert. Chodorkowski wurde als demokratischer Oligarch beschrieben, der gegen die undemokratischen Oligarchen kämpfen würde.
Ich kenne Chodorkowski gut, er hat sich sehr stark verändert. Damals kämpfte er als alter Oligarch gegen die neuen, von Putin geförderten Oligarchen. Heute ist aus ihm ein tatsächlicher Oppositioneller geworden, ein wichtiger Akteur im Kampf gegen Putin. Mittlerweile sind zwanzig Jahre vergangen, jeder verändert sich.
Für Außenstehende hört sich das wie ein Kampf der Giganten an. Gab es in Russland keine zivilgesellschaftlichen Akteure?
Es gab mehr als genug davon. Unabhängige Politiker, Journalisten, Menschenrechtler, Öko-Aktivisten.
Wie haben sich ihre Betätigungsbedingungen in der Putin-Ära verändert?
Boris Nemzow ist umgebracht worden, Natalja Estemirowa, Anna Politkowskaja ebenfalls. Walerija Nowodworskaja ist eines natürlichen Todes gestorben, manche überlebten. Garri Kasparow ist emigriert. Es wären noch viele, in Deutschland unbekannte Menschen zu nennen. Ein wichtiger Aktivist ist Sergej Udalzow, aber während seiner fünfjährigen Gefängniszeit hat er viele Mitstreiter verloren und das, was ich »revolutionären Drive« nennen würde.
In Westeuropa wird die vielfältige innerrussische Opposition kaum wahrgenommen, alles kapriziert sich auf den Politiker Nawalny, dessen Ansichten durchaus umstritten sind. Aber von den Menschen, die auf die Straßen gehen, sind vermutlich die wenigsten Nawalny-Anhänger, oder?
Für mich formuliere ich es so: Ich tue alles, damit Nawalny an den Wahlen teilnehmen kann. Ich werde sogar für ihn stimmen, und ich werde alle aufrufen, für ihn zu stimmen. Sobald er gewinnt, werde ich am nächsten Tag in Opposition gegen ihn sein. Mehr muss ich dazu nicht sagen.