Fabian Grieger Indigene bauen im Südwesten von Kolumbien eine Alternative abseits des Staates auf
Während die ganze Welt kapitalistisch scheint, bauen Indigene im Südwesten Kolumbiens eine Alternative abseits des Staates auf. Wie schaffen sie das?
Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Musikfestival: Auf der Bühne des größten Zeltes steht ein Mann mit braun-beigefarbenem Poncho und einem Strohhut vor einem Mikrofon. Er ruft in die Menge: Wo ist das Volk der Yanacona? »Hier«, schreit es ihm aus dem Publikum entgegen. »Und wo ist das Volk der Nasa?« Jetzt wird es richtig laut: »Hier!«
Als danach Musiker mit grün-rotem Halstuch und Panflöte loslegen, klingt das ein bisschen nach andinem Schlager. Doch der Text hat es in sich: »Wir leisten weiter Widerstand gegen die Invasion und verteidigen unsere Rechte im Kampf gegen die Unterdrückung.« Es ist die Veranstaltung zum 50jährigen Jubiläum des Regionalen Indigenen Rates im Cauca (CRIC), in dem die indigenen Gemeinden der Region organisiert sind. Die Provinz Cauca liegt im südwestlichen Kolumbien. Zur Feier in der Ortschaft El Pital sind mehr als 20 000 Menschen gekommen, um die wohl stärkste indigene Autonomiebewegung Südamerikas zu feiern.
Der CRIC umfasst zehn indigene Völker, die seit 500 Jahren Widerstand gegen die Kolonialisierung leisten. Damals führte die indigene Kazikin, die als La Cacica Gaitana bekannt wurde, eine Revolte an, die ihrem Volk ein knappes Jahrhundert Freiheit verschaffte, bevor die Rache der Spanier es fast vollständig ausrottete. Die Nasa sehen sich heute als Erben der 600 Überlebenden.
Die jüngste Etappe des Widerstands begann mit der Gründung des CRIC 1971. Indigene aus verschiedenen Reservaten schlossen sich zusammen. Sie besetzten Land, das einst ihnen gehörte, und erkämpften so Hektar für Hektar zurück – stets unter großer Repression, die den Schmerz über ermordete Familienmitglieder in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.
Das eigene Land ist für die Nasa viel mehr als nur Anbaufläche. Das Leben beginnt mit der Verbindung zum Territorium, den Tieren, Pflanzen und Menschen, mit denen sie zusammenleben. Die Nasa nennen das: Harmonie. Den Weg dorthin weisen die Ältesten und Ahnen der Gemeinschaft, die Mayores genannt werden. Der westliche Kapitalismus hingegen mit seinem Raubbau an Natur und Mensch erzeugt Disharmonie in den Beziehungen; das erklärt Mayor Julio, wie er liebevoll genannt wird. Vor dem Interview pustet er Tabakrauch in die Luft und gen Erde, um in Verbindung mit den Wolken zu treten. Es wird klar, wie grundsätzlich anders die Nasa die Welt denken. Der 53-Jährige ist einer jener hochgeschätzten Älteren der Bewegung, die wesentliche Weichen des Autonomieprozesses mitgeprägt haben. 20 Jahre lang war er »Gouverneur«, gewählte Führungsperson seines Cabildos, des indigenen Gemeinderates. Über den Cabildos steht die Asamblea, die Vollversammlung, in der die wesentlichen Entscheidungen von allen Gemeindemitgliedern getroffen werden.
Da die Errichtung einer anderen Welt mit Bildung beginnt, half Mayor Julio dabei, die erste, seit 2018 staatlich anerkannte Indigene Universität Lateinamerikas aufzubauen. »Das staatliche Bildungssystem wurde uns aufgezwungen, und wir haben dadurch tausend Dinge verloren. Wir wurden genötigt, Spanisch zu lernen und unsere eigene Sprache, die uns viel besser entspricht, zu vergessen.«
Aber die Kritik geht tiefer: »Die westliche Bildung basiert auf vorgegebenen Lehrplänen, die von oben nach unten funktionieren.« Die Schulen des CRIC und die Universität wollen es jetzt anders machen. Es gibt keine Lehrenden, sondern alle Beteiligten sind Dinamizadores, was im Deutschen etwa Impulsgebende bedeutet. Die Universität hat keinen festen Standort, sondern wandert. »Wir bestärken junge Leute darin, auf ihrem Territorium zu bleiben, während andere Universitäten sie in die Stadt locken, um dort dem Kapitalismus zu dienen.«
Die Lernräume der Nasa haben ein Dach, aber keine Wände, um die Gedanken nicht einzuengen. Überhaupt findet das Lernen eher unterwegs statt, bei Begegnungen oder der Gemeinschaftsarbeit. Mathematik wird anhand des Webens von Stoffen gelernt.
»Erst lernen wir, wo wir herkommen, und dann, was es außerhalb noch gibt – die westliche Bildung. Aber das darf uns nicht von unserem Weg abbringen.« So umfasst die Universität zehn Studienrichtungen, zum Beispiel Buen Vivir (Gutes Leben). »Dabei steht die Frage im Zentrum: Wie erträumen wir uns unser Leben? Wie können wir in Kontakt mit der Erde, dem Wasser und der Sonne leben?«, erklärt Julio.
Eigenes Rechtssystem und autonome Ökonomie
Der CRIC hat darauf in den vergangenen Jahren einige Antworten gefunden. So wurde eine eigene Krankenkasse gegründet, die staatlich so subventioniert ist, dass sie allen Indigenen kostenlose schulmedizinische Versorgung ebenso wie traditionelle Behandlungsmethoden ermöglicht. Hierfür und ebenso für die Anerkennung des eigenen indigenen Rechtssystems legt die kolumbianische Verfassung von 1991 den Grundstein. Gemeindemitglieder, die gegen die Regeln verstoßen, werden nicht vor einen Richter geführt oder ins Gefängnis gesteckt, sondern die gesamte Gemeinschaft berät, welche Maßnahmen eine Veränderung des Straffälligen ermöglichen können. So leisten sie Gemeinschaftsarbeit oder erhalten in Rehabilitationszentren spirituelle Unterstützung.
Der CRIC versucht auch auf eigenen wirtschaftlichen Beinen zu stehen, doch bis dahin ist es noch weit. Nach Jahrhunderten der Vertreibung haben die indigenen Gemeinden nicht mehr genug fruchtbares Land, um sich selbst mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Zudem schützt der CRIC Wälder und Wasserläufe, 60 Prozent des Territoriums sind Naturschutzgebiet. »Wirtschaftlich betrachtet ist das eine Herausforderung«, erklärt Aparicio Rios, Spezialist für indigene Ökonomie. Seine Idee: »Wir müssen gemeinsam mit anderen sozialen Bewegungen eine eigene Ökonomie aufbauen.« So organisierte er mit der Zentralen Kooperative des CRIC den Import von 35 Tonnen Salz von den indigenen Wayuu im Nordosten. Laut Rios bräuchte es mehr solcher Projekte: »In dieser Welt ist die Wirtschaft der entscheidende Machtfaktor, damit wir dem kolumbianischen Staat auf Augenhöhe begegnen.«
Wie es in Zukunft funktionieren könnte, zeigen die Stände unterhalb des Bühnenzeltes. Hier bewerben Kooperativen ihr Kokabier, Wein aus der Andenblaubeere und Öl aus der Inka-Erdnuss Sacha Inchi.
Währenddessen schallt es aus dem Lautsprecher der Hauptbühne über das Festgelände: »Compañeros, kauft lieber unsere eigenen Getränke statt Coca-Cola!« Es folgen weitere Hinweise für das Gemeinschaftsleben: »Compañeros, gestern haben Leute mit Schuhen auf den Stühlen getanzt und jetzt sind die voll Schlamm.« Oder: »Der Chirrinchi (Schnaps) ist lecker, aber wer nachts zu viel trinkt, verpasst morgens die politischen Diskussionen.«
Fredy Campo ruft mit seiner Gemeinde zur Selbstverteidigung und zu einer klaren Haltung gegen den Drogenhandel auf. In seinem Territorium wurden sämtliche Marihuanapflanzen zerstört, womit die Gemeinschaft den Zorn der Bewaffneten auf sich gezogen hat.
Kollektiv gegen patriarchale Gewalt
Aber nicht alles ist harmonisch innerhalb der Gemeinschaft. Darüber spricht Luciana Velazco, Regionalkoordinatorin des CRIC-Frauenprogramms: »Wir machen seit 26 Jahren Arbeit gegen patriarchale Gewalt, aber wir sind kaum sichtbar innerhalb der Organisation«, kritisiert sie.
»Die Mehrheit unserer Frauen leidet unter psychischer und physischer Gewalt. Das wissen wir schon sehr lange. Aber wenn Frauen Vorfälle melden, wird ihnen von den Autoritäten kaum zugehört.« In Lucianas Stimme liegt Traurigkeit, aber auch die Entschlossenheit, diesen Kampf zu führen und