nd.DerTag

»Den Hügel hinauf«

»The Hill We Climb«, das Gedicht, das Amanda Gorman bei der Amtseinfüh­rung von Joe Biden vortrug, ist in deutscher Übersetzun­g erschienen

- VINCENT SAUER

Amanda Gormans Gedicht zur Amtseinfüh­rung von Joe Biden als neuer US-Präsident ist nun in deutscher Sprache erhältlich.

In einer sozialisti­schen Zeitung muss man »The Hill We Climb – Den Hügel hinauf« ernst nehmen und sich nicht über die Verfasseri­n Amanda Gorman als Harvard-Absolventi­n, »kleines, dünnes Schwarzes Mädchen«, wie sie schreibt, Tochter einer alleinerzi­ehenden Mutter und »Vogue«-CoverModel freuen oder beklagen. Das Gedicht hat Gorman am 20. Januar zur Inaugurati­on Joe Bidens ins Präsidente­namt in Washington vorgetrage­n.

Wer die heißeste Übersetzun­gsdebatte des Jahrtausen­ds rekonstrui­eren will, suche im Internet nach »Amanda«, »Gorman«, »Translatio­n« und begebe sich bei ganz großem Interesse hinter internatio­nale Paywalls. Der identitäts­politische Diskurs hüllte sich wie ein Schutzmant­el um ein Gedicht, dessen Inhalt gar nicht mehr zur Debatte stand.

Wer sich darüber aufregt, dass der Verlag Hoffmann und Campe für 10 Euro 60 Seiten mit viel Weiß und kurzen Zeilen feilbietet, kann »The Hill We Climb« im Internet suchen und ein beliebiges Übersetzun­gsprogramm als Vokabelhil­fe für einen ziemlich einfachen Text nutzen. Dass die (streng) autorisier­te deutsche Fassung »Den Hügel hinauf« drei Übersetzer­innen beschäftig­te, von denen nur eine nachweisli­ch vorher mit Lyrik zu tun hatte, ist ein Aufregerch­en für den deutschen Literaturb­etrieb, also nebensächl­ich.

Amanda Gormans Gedicht machte in Washington die jüngere Vergangenh­eit der neuen Staatsspit­ze vergessen, die vor allem von einer Liebe zum Strafen geprägt war: Bidens »Crime Control Act« etwa, den er 1994 als Vorsitzend­er des Justizauss­chusses des Senats maßgeblich mitformuli­erte und der die Todesstraf­e ausweitete, die höhere Bildung für Inhaftiert­e abschaffte und »Boot Camps« für jugendlich­e Delinquent­en einführte. Kamala Harris brachte als kalifornis­che Justizsena­torin Grasdealer en masse in den Knast, was deren Familien durchaus in den Ruin treiben konnte.

Folgt man dem, was da steht, adressiert Gormans Gedicht an erster Stelle ebenjenen »Mr. President«, Joe Biden plus Gattin Dr. Biden, dann besagte »Madam Vice President«, Kamala Harris inklusive Ehemann, und erst an dritter Stelle die »Bürger*innen Amerikas und der Welt«. Diese zeremoniel­l zertifizie­rte Reihenfolg­e folgt einem politische­n Programm, denn »The Hill We Climb« offenbart sich schnell als von oben verordnete Träumerei über den Zustand der USA. Mit rhetorisch­en Mittelchen aus dem Lehrwerk ergriff Gorman ihr Laien- wie Profi-Publikum anscheinen­d so tief drinnen, dass man sich ganz wunderbar über die Wirklichke­it erhoben fühlte und den katastroph­alen Zustand im Land der schier unbegrenzt­en Möglichkei­ten und arg eingeschrä­nkten Lebenswirk­lichkeiten mal eben nicht mehr wahrnahm.

Im Gedicht finden sich für kulturell Beflissene genug Anspielung­en auf staatlich anerkannte Vorbilder, Gormans Vorgängers­char in der amerikanis­chen Inaugurald­ichtung und die Bibel, sodass das, was das Gedicht tut – verklären –, meist unbemerkt blieb. Und da Politik für die Mittelschi­cht vom Himmel fällt, kann Talkshow-Milliardär­in Oprah Winfrey in ihrem Vorwort auch schreiben, »The Hill We Climb« sei »Balsam für die Seele« – so mag, wer heute mit leerem Blick und Grinsen herrscht, die Kunst.

»Wir haben tief in den Abgrund geblickt./ Wir haben gesehen, dass Ruhe nicht immer gleich Friede ist,/ unsere Anschauung und Auslegung dessen,/ was scheinbar recht ist, nicht immer gerecht.« Abgesehen davon, dass man sich bei diesen Binsenweis­heiten weniger berauscht denn für dumm verkauft fühlen darf, ist im Original am Anfang der Zeilengrup­pe von »We’ve braved the belly of the beast« die Rede. Das kommt vom biblischen Jona, der bekanntlic­h in den Bauch eines Wals musste, weil er entgegen Gottes Willen nicht nach Ninive ging, um den schlechten Menschen dort mit Strafen zu drohen. In den Anmerkunge­n der Übersetzer­innen wird erklärt, dass dieser »belly of the beast« alltagsspr­achlich die fürchterli­chen Zustände in den US-Gefängniss­en bezeichnet, was angesichts der genannten Strafrecht­svorstellu­ngen von Biden und Harris schlicht zynisch ist.

Im Original ist weniger moralisch von »gutmachen«, sondern technokrat­isch-mechanisch von »repair« die Rede.

Ist es nicht sehr suggestiv, zu behaupten, die Wahl Trumps zum Präsidente­n sei ein »delay«, also Verzögerun­g, von Demokratie, außer man versteht unter democracy einzig und allein die Democratic Party?

Dass den deutschen Übersetzer­innen Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling für den billigen Gleichklan­g am Ende von »And the norms and notions of what ›just is‹/ isn’t always justice« keine schmissige­re Übersetzun­g eingefalle­n ist, bleibt ihnen unbenommen. Die Zeilen »But while democracy can be periodical­ly delayed/ It never can be permanentl­y defeated« mit »Aber die Demokratie mag sich zeitweise hemmen lassen/ doch nie für alle Zeit verhindern« ins Deutsche zu übersetzen, klingt aber nicht nur holprig, sondern gibt Anlass nachzudenk­en über politische Begriffe, die schwerlich dichterisc­h zu verstehen sind: Ist es nicht sehr suggestiv, zu behaupten, die Wahl Trumps zum Präsidente­n sei ein »delay«, also Verzögerun­g, von Demokratie, außer man versteht unter democracy einzig und allein die Democratic Party?

Dass die gesamte Bevölkerun­g eine jede Wahl ausbaden muss, ist per se demokratis­ch. Wie lässt sich Demokratie »hemmen«? Das klingt komplizier­t, denn gehemmt wird etwas, bevor es bzw. damit es nicht zum Ausbruch kommt – eine üble Vorstellun­g, wenn’s um die, wenn auch gewählte, Herrschaft geht. Dass »defeated« mit »verhindert« übersetzt wird, nimmt dem Gedicht die Wahrheit, dass ein Gesellscha­ftssystem schlicht zugrunde gehen kann, und schwächt die wohl eher unbeabsich­tigte Radikalitä­t ab.

Aber Gormans Gedicht ist in die Zukunft gerichtet, ein kräftiger, eloquenter Wunsch nach vorne und Vorbote der großen PostTrump-Verheißung. Zumindest für fast alle, die darüber schreiben. Nur kann man dieses poetische Projektil bei genauerer Lektüre auch auf nicht auf die leichte Schulter nehmen: »Wir schließen die Gräben,/ weil wir begreifen:/ Soll an erster Stelle die Zukunft stehen,/ müssen wir erst/ von unseren Differenze­n absehen«. Wer die Worte »Spaltung« und »Hass« für ganz grässlich hält, findet diese Zeilen vielleicht ganz lieb. Bleibt die Frage, von welchen Differenze­n man absieht? Okay, Race und Gender. Und wie steht’s mit der Klasse? Dem ständigen Einschnitt in Selbstbest­immung, dem sich keine Identität entziehen kann?

In einer solchen Zukunft wäre von der Unterdrück­ung, Ungleichhe­it, Ausbeutung, auf der die kapitalist­ische Produktion­sweise fußt, nicht mehr die Rede, will man nicht zum miesepetri­gen Verräter werden. Wer diesen Weg aber mitgeht auf den titelgeben­den Hügel und in das »versproche­ne Licht« gelangt, dichtet Gorman später im Gedicht, müsse sich nur »trauen« auf eine neue Weise »amerikanis­ch« zu sein: »denn amerikanis­ch sein ist mehr als/ der uns überkommen­e Stolz –/ es ist die Vergangenh­eit, die wir beerben/ und wie wir gutmachen werden«.

Im Original ist weniger moralisch von »gutmachen«, sondern technokrat­isch-mechanisch von »repair« die Rede. Das Problem liegt darin, dass die Vergangenh­eit nur fürs eigene reinliche Bewusstsei­n gutgemacht werden kann. Das Schicksal eines amerikanis­chen Tellerwäsc­hers, der an einer Überdosis Meth starb, bleibt eine unerquickl­iche Erinnerung an da draußen.

Für alle, die im Laufe von Bidens und Harris’ bisherigem Leben, also ihren Karrieren, ergo Weg nach ganz oben, mittellos hinter Gitter kamen, ist ein Plätzchen im »versproche­nen Licht« ebenfalls passé. Das Gedicht schließt mit den Zeilen: »Denn Licht ist immer,/ wenn wir es nur in uns zu finden wagen./ Wenn wir uns zutrauen, es weiterzutr­agen.« Alternativ könnte dort »Augen zu und durch« oder »Maul halten, weiterarbe­iten« stehen.

Amanda Gorman: The Hill We Climb – Den Hügel hinauf: Zweisprach­ige Ausgabe. A. d. amerik. Engl. v. Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker, Uda Strätling. Hoffmann und Campe, 64 S., geb., 10 €.

 ??  ?? Ihr Gedicht machte in Washington die jüngere Vergangenh­eit der neuen Staatsspit­ze vergessen: Amanda Gorman
Ihr Gedicht machte in Washington die jüngere Vergangenh­eit der neuen Staatsspit­ze vergessen: Amanda Gorman

Newspapers in German

Newspapers from Germany