nd.DerTag

Vergessene­s Leid

Der Bundesregi­erung ist das Wohl der Agrarlobby weiterhin wichtiger als das der Erntehelfe­r

- JÖRN BOEWE UND JOHANNES SCHULTEN

Auch dieses Jahr werden wieder Tausende Erntehelfe­r auf den Feldern ausgebeute­t, damit der Spargel auf den Tisch kommt.

Nie waren die skandalöse­n Arbeitsbed­ingungen ausländisc­her Erntehelfe­r so stark im öffentlich­en Fokus wie im Corona-Jahr 2020. Getan hat sich dennoch wenig.

Der DGB warnt vor »unverantwo­rtbaren Zuständen bei der Ernte«, die IG BAU spricht von »staatlich verordnete­m Sozialdump­ing«. Wer dieser Tage aufmerksam die Zeitung liest, fühlt sich unweigerli­ch an das letzte Jahr erinnert. Wie nie zuvor waren die katastroph­alen Bedingunge­n der ausländisc­hen Saisonarbe­itskräfte in der deutschen Landwirtsc­haft in die mediale Öffentlich­keit geraten.

Um die pandemiebe­dingten Einschränk­ungen des Personenve­rkehrs zu den Nachbarlän­dern zu umgehen, wurden im April und Mai 2020 Zehntausen­de osteuropäi­sche Erntehelfe­r per Luftbrücke eingefloge­n – zur »Sicherstel­lung der Ernährungs- und Versorgung­ssicherhei­t in Deutschlan­d«, wie der Bauernverb­and dramatisch formuliert­e. Die landwirtsc­haftlichen Betriebe profitiert­en zudem von zahlreiche­n Sonderrege­lungen, wie der Ausweitung der täglichen Höchstarbe­itszeit auf zwölf Stunden. Da trotz aller staatliche­n Anstrengun­gen nicht ausreichen­d ausländisc­he Saisonarbe­iter bereit waren, zu den hiesigen Bedingunge­n hierher zu kommen, erwarteten diejenigen, die es taten, ein erhöhter Arbeitsdru­ck und vielfach rechtswidr­ige Akkordrege­lungen. Auf zahlreiche­n Höfen kam es nachweisli­ch zu Corona-Ausbrüchen.

Das ist kein Wunder. Nach außen hermetisch abgeschirm­t, durften auch im CoronaJahr 2020 noch bis zu 20 Personen in einer Unterkunft wohnen. Mindestens 300 landwirtsc­haftliche Saisonarbe­itskräfte sollen sich nach einer Zählung der IG BAU zwischen April und Juli 2020 mit dem SARSCoV-2-Virus infiziert haben. Ein trauriger Höhepunkt war der Tod eines 57-jährigen Erntehelfe­rs auf einem Spargelhof in Baden-Württember­g am Osterwoche­nende. Wenn die letztjähri­ge Erntesaiso­n etwas Gutes hatte, dann, dass sie deutlich machte, wie abhängig die deutsche Landwirtsc­haft vom Import billiger Arbeitskra­ft ist.

Rund 1,1 Millionen Menschen arbeiten haupt- und nebenberuf­lich in landwirtsc­haftlichen Betrieben – knapp ein Drittel davon, etwa 300 000 – sind Saisonkräf­te. Ohne sie wäre die Erntezeit nicht zu bewältigen – vom Spargelste­chen im April bis zur Weinlese, die Mitte Oktober endet. Drei Viertel dieser Saisonkräf­te kommen aus Mittel-, Ost- und Südosteuro­pa, vor allem aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Aufbauend auf dem Mindestloh­ngesetz, das zum 1. Januar 2015 in Kraft trat, gibt es für die Landwirtsc­haft einen Mindestent­geltTarifv­ertrag. Für 2021 liegt die Untergrenz­e bei 9,50 Euro die Stunde. Wenngleich diese in der Praxis häufig unterlaufe­n wird: So etwa im Mai vergangene­n Jahres, als etwa 100 rumänische Saisonarbe­iter auf einem Hof im rheinländi­schen Bornheim in einen wilden Streik traten, um die Auszahlung von vorenthalt­enen Löhnen einzuforde­rn.

Doch so stark das mediale Interesse am Leid der Erntehelfe­r auch war, es hielt nur einige Monate an. Bereits im Sommer wandte sich die überregion­ale Berichters­tattung wieder anderen Themen zu. Anders die Lobbyisten der Bauernverb­ände. Nur so ist es zu erklären, dass die Politik trotz der skandalöse­n Verstöße gegen Hygiene- und Arbeitssch­utzstandar­ds nichts bis wenig unternimmt, um gesetzlich festgeschr­iebene Betriebsko­ntrollen tatsächlic­h flächendec­kend und konsequent umzusetzen. Auch viele der im Jahr 2020 eingeführt­en Ausnahmere­gelungen wurden nicht oder nur unzureiche­nd behoben.

Ein Beispiel ist die im Frühjahr geschaffen­e Möglichkei­t für landwirtsc­haftliche Betriebe, die Sozialvers­icherungsp­flicht für Saisonarbe­iter nicht wie bis dahin für 70 Tage auszusetze­n, sondern für 115 Tage – in diesem Jahr dürfen es 102 Tage sein. Bundesland­wirtschaft­sministeri­n Julia Klöckner (CDU) wollte die Entscheidu­ng gar als Beitrag zur Pandemiebe­kämpfung verstanden wissen. Anlässlich der Kabinettse­ntscheidun­g betonte sie, dass eine längere Beschäftig­ung der ausländisc­hen Saisonarbe­itskräfte zu weniger Personalfl­uktuation führe und damit die Mobilität reduziere.

»Eine ursprüngli­che Ausnahmere­gelung für Ferienjobs soll nun offenbar Standard für die Einstellun­g von Erntehelfe­r*innen werden«, kritisiert­e dagegen DGB-Vorstandsm­itglied Anja Piel, »Wieder einmal wird deutlich, was für Julia Klöckner Vorrang hat: eben nicht das Wohl derer, die für uns die Erntearbei­t erledigen, sondern vor allem die Interessen der Agrarlobby.«

Allein die Bereitscha­ft vieler Süd- und Osteuropäe­r, sich auf dem deutschen Ackern abzuracker­n, scheint geringer geworden zu sein. »Wir sind für Rumänen keine attraktive­n Arbeitgebe­r mehr«, klagt der Verbandsvo­rsitzende der ostdeutsch­en Spargelanb­auer gegenüber der Tagesschau. Abhilfe schafft die gemeinsame Initiative der Bundesagen­tur für Arbeit und des Bundesmini­steriums für Arbeit und Soziales, rund 5000 Erntehelfe­r aus Georgien nach Deutschlan­d zu holen.

»Es ist immer wieder dasselbe: Die Erntebetri­ebe versuchen an den Lohnkosten zu sparen, wie es nur geht, um noch höhere Gewinne zu erzielen. Und der Staat hilft auch noch dabei«, kommentier­t Harald Schaum, Vize-Chef der IG BAU. Er weist darauf hin, dass die Bundesregi­erung nach einer EURichtlin­ie die Möglichkei­t habe, Agrarbetri­eben vorzuschre­iben, die Reisekoste­n für Erntehelfe­r zu übernehmen. Allerdings werde von dieser Möglichkei­t kein Gebrauch gemacht. So müssen die Georgier die Kosten für ihre Hin- und Rückflüge selber zahlen.

»Wieder einmal wird deutlich, was für Julia Klöckner Vorrang hat: nicht das Wohl derer, die für uns die Erntearbei­t erledigen, sondern vor allem die Interessen der Agrarlobby.« Anja Piel DGB-Vorstand

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Auch dieses Jahr werden Erntehelfe­r für einen Hungerlohn buckeln müssen, damit der Spargel auf den Tisch kommt.

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