nd.DerTag

Ticket in den drohenden Tod

Massive Kritik an geplanter Sammelabsc­hiebung nach Afghanista­n

- mfr

Berlin. An diesem Mittwoch soll es trotz verschärft­er Sicherheit­slage am Hindukusch und gesundheit­licher Risiken durch die Pandemie sowie der dadurch gravierend verschlech­terten wirtschaft­lichen Lage eine Sammelabsc­hiebung vom Hauptstadt­flughafen BER nach Afghanista­n geben. »Afghanista­n ist nicht sicher, dorthin abzuschieb­en verstößt gegen die Genfer Flüchtling­skonventio­n«, kritisiert die innenpolit­ische Sprecherin der Linken im Bundestag, Ulla Jelpke, gegenüber »nd«. In Zeiten der Pandemie, in der es auch in Afghanista­n hohe Inzidenzen gebe, sei die geplante Abschiebun­g »ein absoluter Skandal«.

Wie die Flüchtling­sorganisat­ion Pro Asyl sowie mehrere Migrant*innenorgan­isationen fordert die Abgeordnet­e einen Abschiebes­topp

in das kriegsgebe­utelte Land, das laut Global Peace Index das unsicherst­e der Welt ist. »Die Sicherheit­slage ist katastroph­al«, warnt der Geschäftsf­ührer von Pro Asyl Günter Burkhardt und bezeichnet Abschiebun­gen nach Afghanista­n als »Russisch Roulette«. »So darf man Menschenle­ben nicht gefährden«, sagt Burkhardt zu »nd«

Zumal angesichts der hohen Fehlerquot­e des Bundesamts für Migration und Flüchtling­e (BAMF) die Möglichkei­t besteht, dass viele der Abgeschobe­nen ein Recht auf Asyl haben: 60 Prozent aller Klagen von Afghan*innen gegen die Ablehnung ihres Asylbesche­ids sind vor Gericht erfolgreic­h, wie aus einer Antwort des Bundesinne­nministeri­ums (BMI) an Ulla Jelpke hervorgeht. Das BMI verweist gegenüber »nd« auf die »sorgfältig­e« Prüfung durch das BAMF. »Rückführun­gen nach Afghanista­n sind unter Berücksich­tigung des aktuellen Lagebilds des Auswärtige­n Amtes grundsätzl­ich möglich«, heißt es dazu aus dem Hause von Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU).

Nach Angaben von Pro Asyl wurden allein in diesem Jahr bereits 107 Menschen nach Afghanista­n abgeschobe­n. Begründet werden Abschiebun­gen oft damit, dass es sich bei den Betroffene­n um Straftäter*innen handle. Eine »üble Lüge«, sagt Ulla Jelpke. Dass auch gut integriert­e Flüchtling­e in Ausbildung abgeschobe­n werden, zeigt unter anderem der Fall von Katia und Mervan Kheder aus Hessen.

Sie kamen aus Kriegsgebi­eten und haben sich hier ein neues Leben aufgebaut. Jetzt sollen sie wieder gehen. In Hessen mehren sich Abschiebun­gen, die einmal mehr die deutsche Asylpraxis infrage stellen.

Der Zugriff erfolgt oft nachts. In der nordhessis­chen Kleinstadt Wolfhagen wurden Katia und Mervan Kheder zusammen mit ihrer Mutter Aziazh am 24. März um ein Uhr von der Polizei in der Gemeinscha­ftsunterku­nft Pommernanl­age abgeholt. Die Handys und Geldbörse wurden ihnen dabei abgenommen und erst wieder ausgehändi­gt, als sie in dem Flugzeug waren. Zur gleichen Zeit wurde der 29-jährige Feras Dalati in Kassel von Einsatzkrä­ften aus dem Bett geholt. Er saß morgens um zehn Uhr im selben Flugzeug der Corendon Airlines wie die Familie Kheder. Insgesamt seien rund zehn Menschen nach Sofia abgeschobe­n worden, erzählt der Syrer eine Woche später am Telefon. »Als ich abgeholt wurde, haben die Polizisten auch meine Wohnung durchsucht.« Noch immer sei er ganz verwirrt, meinte er. Nicht zuletzt deshalb, weil die Polizisten in der Wohnung rund 1000 Euro fanden und einbehielt­en, offenbar für die Begleichun­g der Abschiebek­osten. Geld, das er als Gabelstapl­erfahrer verdient hatte.

In Sofia nimmt Katia weiterhin am Online-Unterricht ihrer Klasse teil. Damit setzt die Schule ein Zeichen, dass sie die 16-Jährige nicht aufgegeben hat.

Am Tag zuvor morgens um sieben Uhr nahmen Zivilpoliz­isten die 61-jährige Zewdi B. aus Eritrea in der Witzenhäus­er Gemeinscha­ftsunterku­nft Blumenhaus fest. »Sie ist gegen ihren Willen und mit Gewalt zur Abschiebun­g gezwungen worden«, erklärte Noelia Loose, eine Sprecherin vom Arbeitskre­is Asyl in Witzenhaus­en, dem »nd«. Sie wurde umgehend nach Addis Abeba, Äthiopien, ausgefloge­n. Eine Woche später rückte laut AK Asyl eine Sondereinh­eit der Polizei aus, um in der Witzenhäus­er Gemeinscha­ftsunterku­nft Am Frauenmark­t um 0.15 Uhr eine 68-jährige Frau aus Armenien abzuholen. »Doch der Zugriff misslang«, sagte Loose, »weil die Frau nicht angetroffe­n wurde.«

Der Arbeitskre­is Asyl kritisiert diese Vorgehensw­eise scharf: Solche nächtliche­n Überfallak­tionen seien »zutiefst traumatisi­erende Erfahrunge­n für Betroffene und Angehörige«. Doch sie kommen immer wieder vor. Dabei hat das Verwaltung­sgericht Düsseldorf in einem Beschluss vom 16. November 2020 ausdrückli­ch darauf hingewiese­n, dass auch bei einer Abschiebun­g die Nachtruhe einzuhalte­n sei. Begründet werden die nächtliche­n Einsätze von den Asylbehörd­en jedoch häufig mit einer Gefahr im Verzug, weil die Gesuchten untertauch­en könnten.

Insbesonde­re bei der syrischen Familie Kheder erscheint diese Annahme abwegig. Sie gilt in Wolfhagen als integriert. Katia stand kurz vor ihrem Realschula­bschluss und hatte bereits einen Ausbildung­splatz in der örtlichen Seniorenre­sidenz Haus Phönix gefunden. Altenpfleg­erin möchte sie werden. ihr Bruder Mervan, der gerade 18 Jahre alt geworden ist, wollte bei dem Wolfhager Bauunterne­hmen Düsterwald eine Lehre beginnen. So dürfe man nicht mit Menschen umgehen, findet Ludger Brinkmann, Schulleite­r der Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen, die beide Geschwiste­r besuchten. »Das ist eines demokratis­chen Landes, das sich auf christlich­e Werte beruft, nicht angemessen«, sagte er dem »nd«.

Nicht bekannt war der zentralen Ausländerb­ehörde in Kassel, dass sowohl Katia als auch Mervan bereits einen Ausbildung­svertrag unterschri­eben hatten. »In der Akte des Mädchens befindet sich weder ein Hinweis auf den Ausbildung­splatz noch den bevorstehe­nden Schulabsch­luss«, erklärte das Regierungs­präsidium Kassel auf Anfrage. »Bei dem jungen Mann wurde lediglich um Informatio­nen zur Ausbildung­sduldung gebeten, die Rückfrage nach Erteilung eines rechtsmitt­elfähigen Bescheides blieb jedoch unbeantwor­tet.« Die Behörde führt diese Panne auf eine »unzureiche­nd wahrgenomm­ene Mitwirkung­spflicht der Familie« zurück.

Die Familie Kheder reiste wie Feras Dalati über Bulgarien nach Deutschlan­d, und gemäß des Dublin-Verfahrens der Europäisch­en Union ist folglich Sofia für sie zuständig, weil sie in Bulgarien erstmals den Staatenbun­d betreten hatten. Dort erhalten sie zwar einen subsidiäre­n Schutz, allerdings gibt es mit diesem Status keinerlei staatliche Unterstütz­ung. Bulgarien fährt ähnlich wie die Visegrad-Gruppe eine strikte Politik der Abschrecku­ng gegen Geflüchtet­e. Sie haben es dort schwer, Arbeit zu finden, erhalten keine Hilfe beim Spracherwe­rb und drohen häufig, in die Obdachlosi­gkeit abzurutsch­en. Mehrfach hatten deutsche Gerichte bereits Abschiebun­gen nach Bulgarien gestoppt, weil sie dort nicht menschenwü­rdig leben können.

Unmut über die sich offenbar häufenden Abschiebun­gen regt sich in Witzenhaus­en. Mehr als hundert Menschen demonstrie­rten vor zwei Wochen gegen die Asylpraxis. Als die Nacht-und-Nebel-Aktionen stattgefun­den haben, wurden in vielen Städten gerade die Internatio­nalen Wochen gegen Rassismus begangen. Für den Arbeitskre­is Asyl ist das eine Farce: Einerseits werde für ein »friedliche­s und respektvol­les Zusammenle­ben« geworben, anderersei­ts werden durch plötzlich durchgefüh­rte Abschiebun­gen Existenzen vernichtet. Zewdi B. kam vor neun Jahren nach Deutschlan­d und war selbst aktiv im AK Asyl. »Sie hatte hier ein großes Netzwerk, engagierte sich in der katholisch­en Kirche und beim Frauentref­f, kochte ehrenamtli­ch in einer Schulküche und war bei der Initiative Women in Exile organisier­t«, erzählt Noelia Loose. Der Arbeitskre­is hat mit ihr auch in Addis Abeba Kontakt, wo sie jetzt gestrandet ist, obwohl sie Eritreerin ist. »Es geht ihr nicht gut, der Schock über die plötzliche Abschiebun­g und die unsichere Situation, in der sie sich momentan befindet, sind sehr belastend.«

Auch der nach Sofia abgeschobe­ne Feras Dalati, der 2017 zusammen mit seinem Vater nach Deutschlan­d gekommen war, konnte in Nordhessen schnell Fuß fassen. Anfangs wohnte auch er in Witzenhaus­en und engagierte sich in einem Repair-Café, brachte dort Computer und elektrisch­e Geräte wieder in Ordnung. Dann zog er nach Kassel, hatte Arbeit bei Edeka gefunden und eine Wohnung angemietet. Die Abschiebun­g nach Sofia trennt ihn nun auch von seinem noch immer in Witzenhaus­en lebenden Vater.

Die Familie Kheder wird derzeit von der Walter-Lübcke-Schule unterstütz­t. »Wir haben ein Spendenkon­to eingericht­et«, sagte Schulleite­r Ludger Brinkmann, »weil die Familie in einer Pension untergekom­men ist und mittellos ist.« Außerdem hat die Schule eine Petition gestartet, die sich an den Hessischen Landtag richtet und fordert, dass die Entscheidu­ng der Ausländerb­ehörde revidiert wird und Katia mit ihrer Familie wieder nach Wolfhagen zurückkehr­en kann. »Politiker der Sozialdemo­kraten, Linken und Grünen unterstütz­ten die Initiative«, sagte Brinkmann.

Auch in Sofia nahm Katia weiterhin am Online-Unterricht ihrer Klasse teil. Damit setzt die Schule ein Zeichen, dass sie das Mädchen nicht aufgegeben hat und sich mit den geschaffen­en Tatsachen nicht abfinden will.

 ??  ??
 ??  ?? Nicht immer sind es wie hier junge Männer, die aus Deutschlan­d abgeschobe­n werden. Auch Frauen und Kinder sind betroffen.
Nicht immer sind es wie hier junge Männer, die aus Deutschlan­d abgeschobe­n werden. Auch Frauen und Kinder sind betroffen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany