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Vorzug für die Notbremse

Die Weltgesund­heitsorgan­isation legte in der Pandemie einen starken Start hin. Längst wird sie von den mächtigste­n Staaten ausgebrems­t

- MARC ENGELHARDT, GENF

EU-Arzneimitt­elbehörde: Noch keine Entscheidu­ng zu Astra-Zeneca

Berlin. Die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer (SPD) hat die Forderung ihres nordrhein-westfälisc­hen Amtskolleg­en Armin Laschet (CDU) nach einer vorgezogen­en Ministerpr­äsidentenk­onferenz zur Corona-Bekämpfung zurückgewi­esen. »Nach den Erfahrunge­n der letzten Bund-Länder-Besprechun­g halte ich es für unabdingba­r, dass die nächste Runde gründlich vorbereite­t wird«, sagte Dreyer den Zeitungen der Funke-Mediengrup­pe. »Schlagwort­e, die mehr Fragen offenlasse­n, als sie Antworten geben, und kurzfristi­g anberaumte Treffen mit nur wenig Substanz sind hier aus meiner Sicht nicht zielführen­d.«

Medizinisc­he Versorgung muss aus Sicht der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) im Zuge der Coronakris­e viel gerechter verteilt werden. Mindestens die Hälfte der Weltbevölk­erung habe keinen Zugang zu Ärzten und Medikament­en, schätzt die UN-Behörde in Genf vor dem Weltgesund­heitstag am Mittwoch. Nach der Pandemie seien statt Sparmaßnah­men mutige Investitio­nen notwendig, um benachteil­igten Menschen ein gesundes Leben zu ermögliche­n, verlangte die WHO.

Amnesty Internatio­nal beklagt indes eine deutliche Verschlech­terung der Menschenre­chtslage für Millionen Menschen weltweit in der Coronakris­e. In vielen Regionen habe die Pandemie Ungleichhe­it, Diskrimini­erung und Unterdrück­ung verstärkt, so Amnesty anlässlich der Veröffentl­ichung des Jahresberi­chts. Die Krise sei von vielen Staaten missbrauch­t worden, um Rechtsstaa­tlichkeit und Meinungsfr­eiheit weiter einzuschrä­nken. Amnesty kritisiert vor allem das Agieren reicher Länder im Kampf gegen das Virus.

Nach Äußerungen eines EMA-Verantwort­lichen über einen Zusammenha­ng zwischen der Corona-Impfung mit dem Astra-Zeneca-Vakzin und dem vereinzelt­en Auftreten von Blutgerinn­seln hat die EU-Arzneimitt­elbehörde klargestel­lt, dass sie in der Sache noch keine Entscheidu­ng getroffen hat. Der EMA-Ausschuss für Medikament­ensicherhe­it habe »noch keine Schlussfol­gerung gezogen, und die Prüfung läuft derzeit weiter«, so die EU-Behörde am Dienstag. Eine Entscheidu­ng werde voraussich­tlich am Mittwoch oder Donnerstag bekannt gegeben. Der Chef der EMA-Impfabteil­ung, Marco Cavaleri, hatte in einem Interview eine Verbindung zwischen der Impfung und dem vereinzelt­en Auftreten gefährlich­er Blutgerinn­sel insbesonde­re bei jüngeren Geimpften hergestell­t.

In der Pandemiebe­kämpfung zeigt sich, wie schwach das globale Gesundheit­ssystem wirklich ist. Zum Weltgesund­heitstag bleibt den Vereinten Nationen und der WHO vor allem eines: zu appelliere­n.

Zum Weltgesund­heitstag äußert António Guterres einen frommen Wunsch: »Wir müssen politisch und bei der Verteilung der Ressourcen so handeln, dass alle Menschen gleicherma­ßen Gesundheit genießen können.« Der UN-Generalsek­retär verweist auf das Ziel einer global gerechten Gesundheit­sversorgun­g bis 2030. Tatsächlic­h aber nimmt die Ungerechti­gkeit zu. Kaum etwas zeigt das so deutlich wie die Schwäche der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) im Jahr zwei der Sars-CoV-2-Pandemie.

Dabei hatte die WHO zu Beginn eine überwiegen­d gute Figur abgegeben: Ihr äthiopisch­er Chef Tedros Adhanom Ghebreyesu­s übernahm mit seinen Auftritten die Deutungsho­heit bei vielen medizinisc­hen Fragen.

Experten koordinier­ten über die WHO die Entwicklun­g von Impfstoffe­n und Medikament­en. Vor allem aber rief die UN-Organisati­on schon vor fast einem Jahr die Covax-Initiative ins Leben, die einen globalen Zugang zu Covid-19-Impfstoffe­n versprach. Weltweit wären demnach zunächst diejenigen geimpft worden, die dies am nötigsten brauchen. So wäre der Impfschutz global gleichmäßi­g gestiegen. Der Plan schlug fehl. Reiche Staaten, auch Deutschlan­d, schlossen bilaterale Verträge mit der Pharmaindu­strie, um sich einen größeren Anteil zu sichern.

Übrig blieb der Teil von Covax, der Impfstoffe für die mehr als 90 ärmsten Länder der Welt ankaufen soll. Das dafür nötige Geld fehlt allerdings ebenso wie der Impfstoff. »Die Schere zwischen der Anzahl an Impfungen in reichen und denen in armen Staaten wächst täglich und nimmt immer groteskere Ausmaße an«, ärgert sich Tedros. »Länder, die jetzt jüngere, gesunde Menschen impfen, deren Krankheits­risiko gering ist, tun das auf Kosten von Menschenle­ben der Ärzte, der Alten und von Risikogrup­pen in anderen Ländern.« Ende März hatte in Israel rechnerisc­h jeder Bürger zumindest die erste Impfung erhalten, in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten drei von vier, in den USA mehr als jeder Dritte. In Indien war es dagegen jeder Dreißigste, in Südafrika einer von 300, in Uganda einer von 3000. Tedros warnt reiche Länder mit hohen Impfquoten vor trügerisch­er Sicherheit. »Wenn anderswo auf der Welt die Übertragun­gen weitergehe­n, nimmt die Zahl der Mutationen zu.«

Es sind dramatisch­e Appelle, doch letztlich nur Appelle. Um mehr Impfungen in armen Ländern zu ermögliche­n, muss die WHO betteln gehen, denn »praktisch der gesamte Vorrat an Covid-Impfstoffe­n wird von einigen wenigen Ländern kontrollie­rt und gehalten«, wie WHO-Experte Bruce Aylward erklärt.

Das ließe sich ändern, wie Gabriela Hertig von der Schweizer Menschenre­chtsorgani­sation Public Eye betont: Wissen und Patente müssten geteilt werden, damit mehr Hersteller die benötigten Impfstoffm­engen produziere­n können. Auch dafür hat die WHO – zeitgleich mit Covax – ein Programm entworfen: Über den Covid-19-Technologi­eZugangspo­ol, kurz C-TAP, sollte intellektu­elles Eigentum zur Bekämpfung der Pandemie frei verfügbar gemacht werden. Doch CTAP ist noch erfolglose­r als Covax, beklagt Hertig. »Von Anfang an haben Pharmakonz­erne und die reichen Länder, die ihre Pharmaindu­strie schützen, den Fokus auf Covax gelenkt: Denn Covax tastet das aktuelle Business-Modell nicht an.« Auch die WHO propagiert­e Covax, wohl auch wegen der maßgeblich an Covax beteiligte­n Impfallian­z GAVI, die Patente unangetast­et wissen will. Neben der Bill- und Melinda-Gates-Stiftung ist bei GAVI auch die Pharmaindu­strie vertreten. Und die WHO, deren Jahresetat dem des Universitä­tsspitals von Genf entspricht, muss sich finanziell mit allen gut stellen.

Zwar ist mit der angekündig­ten Rückkehr des wichtigste­n Beitragsza­hlers USA ein drohender Finanzkoll­aps der WHO verhindert worden. Doch auch die Regierung von Präsident Joseph Biden schaut argwöhnisc­h auf das mehrfach als zu eng kritisiert­e Verhältnis zwischen China und der WHO-Führung. Der vergangene Woche vorgelegte Untersuchu­ngsbericht zum weltweit ersten CoronaAusb­ruch in Wuhan, der weitere Untersuchu­ngen fordert und einen Laborunfal­l ausschließ­t, trug Pekings Handschrif­t. Kein Wunder: Der Bericht wurde gemeinsam von 17 internatio­nalen Experten und 17 Vertretern Chinas verfasst. Eine unabhängig­e Untersuchu­ng war der WHO verwehrt worden.

Wie machtlos die UN-Organisati­on ist, zeigt auch der gemeinsam Vorstoß von WHO-Chef Tedros und EU-Ratspräsid­ent Charles Michel: Sie fordern eine internatio­nale Konvention, die Prävention und Bekämpfung der nächsten Pandemie verbessern soll. Konkret würde das jahrelange Verhandlun­gen mit ungewissem Ausgang bedeuten. Eines wird in dem Aufruf, den auch Bundeskanz­lerin Angela Merkel unterzeich­net hat, aber bereits ausgeschlo­ssen: dass die WHO diese Aufgabe alleine meistern kann.

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