nd.DerTag

100 Jahre nach den Nazis

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Historisch­es Bewusstsei­n sollte immer gegenwärti­g sein. Berlins Innensenat­or Andreas Geisel scheint allerdings nicht gänzlich alle Jahrestage präsent zu haben. Ausgerechn­et am 80. Jahrestag des schändlich­en Überfalls der deutschen Wehrmacht und SS auf Griechenla­nd und Jugoslawie­n am 6. April 1941 erklärt der SPD-Politiker in Berlin, dass es ein »starkes Zeichen für Frieden und Völkervers­tändigung« wäre, wenn die Olympische­n Spiele 2036 in Berlin stattfinde­n würden. Zwei Sportfunkt­ionäre, unter ihnen ein ehemaliger Sprecher des Senats, hatten zuvor in einem Gastbeitra­g für die »Berliner Morgenpost« vorgeschla­gen, die Spiele 100 Jahre nach den Nazis erneut in Berlin abzuhalten, gemeinsam mit Israel und der Stadt Tel Aviv. Die Gastautore­n räumten ein: »Es ist eine Vision, noch nicht mehr.« Die israelisch­en Partner hatten sie offenbar auch nicht in ihre ganz eigenen Aufarbeitu­ngsfantasi­en einbezogen, zumindest ist eine Kommentier­ung des Vorschlags Berlin – Tel Aviv nicht bekannt.

In diesem konkreten Fall halte ich es allerdings ausnahmswe­ise mit dem verstorben­en SPD-Bundeskanz­ler Helmut Schmidt: »Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.« Ein Berliner Olympia 100 Jahre nach den Nazis zu fordern, die die Idee der Olympische­n Spiele instrument­alisierten und für ihre Propaganda missbrauch­ten, das zeugt schon von einer Menge ahistorisc­hem Verständni­s. Berlins Erbe und Verantwort­ung ist es, das Gedenken an die sechs Millionen Opfer der Shoa aufrechzue­rhalten. Es gilt, die schrecklic­hen Verbrechen und die Massenvern­ichtung aufzuarbei­ten, die maßgeblich in dieser Stadt geplant und von hier aus durchgefüh­rt wurden. Aber das macht man doch nicht, indem man im »Jubiläumsj­ahr« erneut Olympische Spiele abhält und die Sportveran­staltung mit ein paar Toleranz-Floskeln verkleiste­rt. Dadurch wirkt es, als solle ein Schlussstr­ich gezogen werden, um die dunkle Geschichte hinter sich zu lassen, statt das Gedenken an die Opfer hochzuhalt­en.

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FOTO: ND/F. SCHIRRMEIS­TER Martin Kröger kritisiert die Idee, 2036 Olympia nach Berlin holen zu wollen

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