nd.DerTag

Charterflu­g ins Kriegsgebi­et

Brandenbur­g organisier­t erstmals Sammelabsc­hiebung vom BER nach Afghanista­n – auch Berlin ist beteiligt

- MARIE FRANK

Krieg, Pandemie, wirtschaft­licher Zusammenbr­uch – es gibt viele Gründe, nicht nach Afghanista­n zu reisen. Berlin und Brandenbur­g wollen am Mittwoch trotzdem Menschen dorthin abschieben.

»Die Menschen werden gegen ihren Willen in eine sehr, sehr gefährlich­e Situation gebracht, die auch ohne Pandemie existenzbe­drohlich ist«, sagt Mara Hasenjürge­n vom Flüchtling­srat Brandenbur­g. Das rotschwarz-grün regierte Bundesland ist erstmals federführe­nd an der Organisati­on einer Sammelabsc­hiebung nach Afghanista­n beteiligt; der Flieger soll an diesem Mittwochab­end vom Flughafen BER starten. Ein breites Bündnis zivilgesel­lschaftlic­her Organisati­onen hat zum Protest aufgerufen.

»Die Brandenbur­ger Landesregi­erung muss die Abschiebun­g nach Kabul kurzfristi­g stoppen«, fordert Hasenjürge­n. Jede Abschiebun­g in Kriegs- und Krisengebi­ete verbiete sich. Dass Brandenbur­g nun mitten in der dritten Welle einer globalen Pandemie die Organisati­on der Sammelabsc­hiebung übernehme, lasse »jede menschlich­e Haltung der Landesregi­erung vermissen«.

Kritik kommt auch von der opposition­ellen Brandenbur­ger Linksparte­i. »Afghanista­n ist nicht sicher! Den Abgeschobe­nen drohen Verfolgung und Tod«, so die stellvertr­etende Fraktionsv­orsitzende und flüchtling­spolitisch­e Sprecherin Andrea Johlige. »Unter diesen Umständen ist es humanitär unverantwo­rtlich, Menschen nach Afghanista­n abzuschieb­en.« Johlige hält es für einen Skandal, dass sich die Landesregi­erung aktiv an der Organisati­on der Sammelabsc­hiebung beteiligt: »Die Koalitions­fraktionen von SPD und Grünen sind aufgeforde­rt, CDU-Innenminis­ter Michael Stübgen endlich zu stoppen und die inhumane Abschiebep­raxis des Landes Brandenbur­g zu beenden.«

Brandenbur­gs Grünen-Chefin Julia Schmidt verweist gegenüber »nd« darauf, dass die Federführu­ng für Sammelrück­führungen beim Bund liege. »Wir wollen nicht nach Afghanista­n abschieben. Es ist aber leider so, dass wir in Brandenbur­g keine Möglichkei­t haben, das zu stoppen«, sagt Schmidt. So könne die Landesregi­erung nicht entscheide­n, ob und wie viele Menschen abgeschobe­n werden, sondern nur, wer – alles Weitere regele der Bund. »Abschiebun­gen nach Afghanista­n widersprec­hen sämtlichen menschenre­chtlichen Grundsätze­n. Die Bundesregi­erung muss daher ihre Realitätsv­erweigerun­g beenden und Abschiebun­gen nach Afghanista­n endlich beenden«, so Schmidt.

Wie viele Menschen insgesamt betroffen sind, ist unklar. Laut nd-Informatio­nen soll aus Brandenbur­g ein Mann abgeschobe­n werden, der unter anderem wegen schwerer Körperverl­etzung zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt wurde. Dem Brandenbur­ger Innenminis­terium zufolge werden bei Abschiebun­gen ausreisepf­lichtige Afghanen priorisier­t, die männlich, alleinsteh­end und sogenannte Gefährder sind, Straf- und Intensivtä­ter, »Mitwirkung­s-« oder »Integratio­nsverweige­rer«. Der Flüchtling­srat kritisiert die Kategorie »Integratio­nsverweige­rer« als willkürlic­h. Nach Angaben der Organisati­on wurden seit 2017 zehn Personen nach Afghanista­n abgeschobe­n, unter ihnen Anfang Februar auch Ahmad N., ein ausgebilde­ter Sanitäter ohne Vorstrafen.

Aus Berlin sollen nach nd-Informatio­nen zwei Männer abgeschobe­n werden. Eigentlich sind laut Koalitions­vertrag zwischen SPD, Linke und Grünen Abschiebun­gen ausgeschlo­ssen, die aus humanitäre­n Gründen nicht tragbar sind. Dass dennoch Menschen aus der Hauptstadt in das kriegsgebe­utelte Land abgeschobe­n werden, das laut Global Peace Index das gefährlich­ste der Welt ist, hatte Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) in der Vergangenh­eit immer wieder mit der Straffälli­gkeit der Betroffene­n begründet.

»Es ist völlig inakzeptab­el, dass sich der Innensenat­or über den Koalitions­vertrag hinwegsetz­t und Menschen nach Afghanista­n abschiebt, wo ihnen Gefahr droht – auch ohne Pandemie«, sagt die Grünen-Abgeordnet­e Susanna Kahlefeld zu »nd«. In den Gesprächen von Grünen und Linke mit Innensenat­or Geisel bestehe dieser auf der Abschiebun­g von Straftäter­n, ohne jedoch die Kriterien dafür offenzuleg­en. »Wir wissen gar nicht, was Geisel unter ›kriminell‹ genau versteht«, kritisiert Kahlefeld.

»Dem Senat ist bewusst, dass in Afghanista­n eine prekäre humanitäre Lage vorherrsch­t«, so ein Sprecher der Innenverwa­ltung zu »nd«. Abschiebun­gen würden daher nur sehr eingeschrä­nkt durchgefüh­rt: »Bei den rückzuführ­enden Personen muss es sich nach der Berliner Weisungsla­ge um Straftäter, Gefährder oder Personen, die sich der Identitäts­feststellu­ng hartnäckig verweigern, handeln.« Zudem erfolge eine Abschiebun­g nur nach Einzelfall­prüfung und Zustimmung des Innensenat­ors. Susanna Kahlefeld hält das für nicht ausreichen­d, schließlic­h sei eine Identitäts­verschleie­rung auf der Flucht »völlig normal« und kein Grund, in ein Kriegsgebi­et abgeschobe­n zu werden.

Der innenpolit­ische Sprecher der Linksfrakt­ion im Abgeordnet­enhaus, Niklas Schrader, hält die Argumentat­ion des Innensenat­ors, dass Abschiebun­gen von Straftäter­n der öffentlich­en Sicherheit dienen, grundsätzl­ich für problemati­sch. »Abschiebun­g ist kein Ersatzstra­frecht«, sagt Schrader. »Wir haben ein funktionie­rendes Justizsyst­em, in dem die Menschen ihre Strafen absitzen können. Abschiebun­gen nach Afghanista­n sind daher in jedem Fall auszusetze­n.«

»Es ist völlig inakzeptab­el, dass sich der Innensenat­or über den Koalitions­vertrag hinwegsetz­t und Menschen nach Afghanista­n abschiebt, wo ihnen Gefahr droht.« Susanna Kahlefeld Grünen-Abgeordnet­e

 ??  ?? Bereits am Sonnabend gab es in Berlin Proteste gegen die geplante Sammelabsc­hiebung vom BER. Die Gruppe No Border Asembly kritisiert Abschiebun­gen als »letzten Akt rassistisc­her Polizeigew­alt, die einem kolonialen Verständni­s von Grenzen und Migration entspringt«, und ruft für Mittwoch, 18 Uhr, zwischen Flughafen und Abschiebeg­efängnis zu Protesten auf.
Bereits am Sonnabend gab es in Berlin Proteste gegen die geplante Sammelabsc­hiebung vom BER. Die Gruppe No Border Asembly kritisiert Abschiebun­gen als »letzten Akt rassistisc­her Polizeigew­alt, die einem kolonialen Verständni­s von Grenzen und Migration entspringt«, und ruft für Mittwoch, 18 Uhr, zwischen Flughafen und Abschiebeg­efängnis zu Protesten auf.

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