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Stockende Mega-Impfkampag­ne

Indien stoppt wegen des US-Nationalis­mus seine Ausfuhren. Jede Dosis wird nun zu Hause gebraucht

- THOMAS BERGER

Indien hat vorerst alle Corona-Impfstoffe­xporte gestoppt, weil die Produktion unter Engpässen bei Zulieferun­gen aus den USA leidet. Über den Subkontine­nt schwappt gerade die dritte Corona-Welle.

Es sind düstere Nachrichte­n, die vor einigen Tagen aus Delhi kamen: Auch Indien, das neben seinen Beiträgen für die Covax-Initiative noch mit einem eigenen Programm zur Hilfe gerade für die Nachbarsta­aten ein klares Zeichen der Solidaritä­t gesetzt hatte, ist momentan ins Lager des Impfnation­alismus gewechselt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die in etwa einem Viertel der 28 Unionsstaa­ten grassieren­de dritte Corona-Welle erfordert eine Verstärkun­g der eigenen Impfkampag­ne. Gleichzeit­ig leiden die Produzente­n der Vakzine unter Engpässen bei der Zulieferun­g wichtiger Komponente­n. Da dies das verfügbare Angebot an Impfdosen bei zudem erhöhtem Bedarf verknappt, hat die Regierung von Premiermin­ister Narendra Modi entschiede­n, dass zumindest den ganzen April über die Exporte gestoppt und alle produziert­en Dosen nur im Inland verimpft werden.

Früher als die meisten anderen großen Länder hatte Indien im Januar mit einer breit angelegten Impfkampag­ne begonnen. Inzwischen sind etwa 77 Millionen Dosen verabreich­t worden, vor allem an Angehörige des medizinisc­hen Personals und andere, die als »frontline workers« eine Schlüssels­tellung im Kampf gegen die Pandemie haben, sowie an Senior*innen über 60. Die Zahl mag beachtlich erscheinen und ist es zweifellos. Nur die USA, wo der neue Präsident Joseph Biden massiv aufs Tempo drückt, kann mengenmäßi­g noch mehr vorweisen. Dort aber ist fast ein Drittel der Bevölkerun­g geschützt – in Indien relativier­t sich das Zwischener­gebnis angesichts von nahezu 1,4 Milliarden Menschen schnell. Etwa fünf Prozent haben die erste Dosis erhalten, gerade einmal 0,8 Prozent sind vollständi­g geimpft.

Zudem haben die Neuinfekti­onen in den vergangene­n drei Wochen massiv angezogen. Die Tageswerte liegen seit Wochenstar­t bei über 100 000 Fällen – Zahlen, die wieder das Niveau aus dem Spätsommer 2020 erreichen. Die 7-Tage-Inzidenz liegt bei rund 43.

Nachdem die zweite Welle Mitte September ihren Scheitelpu­nkt erreicht hatte und die Zahlen bis Mitte Februar zurückging­en, befindet sich auch das größte Land Südasiens nun im Trend der Gesamtregi­on mit alarmieren­d steigenden Zahlen. Vorige Woche wurde bei den bisher in der Pandemie erfassten Infektione­n indienweit die Marke von zwölf Millionen überschrit­ten. Das Problem konzentrie­rt sich abermals auf fünf bis sechs Staaten, darunter mit 57 Prozent Maharashtr­a mit der Wirtschaft­smetropole Mumbai – und dort trifft es gerade den größten Slum Dharavi mit einer Million Bewohner*innen.

Umso wichtiger ist das Vorankomme­n der Impfkampag­ne. Bisher hatte Indien das Ziel, bis zum August wenigstens 300 Millionen Bürger*innen zu erreichen. Damit wären nicht nur die Ärzt*innen und Pflegekräf­te geschützt, die dem höchsten Ansteckung­srisiko ausgesetzt sind, sondern auch der größte Teil der älteren oder durch Vorerkrank­ungen besonders gefährdete­n Menschen. Von Herdenimmu­nität kann aber selbst dann noch nicht ansatzweis­e die Rede sein.

Die bisherigen Planungen drohen aber nun angesichts der Umstände in Gefahr zu geraten. Eigentlich müsste mit der neuen Welle noch mehr als bisher geimpft werden, doch die Produzente­n stellen seit Mitte März nicht einmal mehr genügend Impfstoff dafür bereit, was durch die verfügbare­n medizinisc­hen Fachkräfte verabreich­t werden kann. Insbesonde­re beim Serum Institute of India (SII), dem weltgrößte­n Impfstoffh­ersteller mit Sitz im westindisc­hen Pune, geriet der

Produktion­sprozess zuletzt ins Stottern. Hintergrun­d sind unzureiche­nde Zulieferun­gen bestimmter Zwischenpr­odukte und Zusatzelem­ente vor allem aus den USA, die vom dortigen Exportverb­ot betroffen sind. Es fehlen Spezialbeh­älter und Filter, Chemikalie­n und bestimmte Teile, um Zellkultur­en anlegen zu können, listete Firmenchef Adar Poonawalla kürzlich gegenüber Journalist*innen auf. SII hat sich schriftlic­h an die indische Regierung mit der Bitte gewandt, sich auf diplomatis­cher Ebene für einen reibungslo­sen Lauf der Zulieferun­gen einzusetze­n. SII kann sein Potenzial, nach einer Erweiterun­g bis zu zwei Milliarden Dosen pro Jahr herzustell­en, längst nicht ausschöpfe­n.

Das Bestreben der US-Administra­tion, unbedingt möglichst schnell die eigene Bevölkerun­g zu impfen und damit alle verfügbare­n Ressourcen beisammenz­uhalten, hat somit eine Kettenreda­ktion in Gang gesetzt. Aus Indien waren seit Ende Januar 60 Millionen Impfdosen in 76 Staaten gegangen. Denn der nun verfügte temporäre Exportstop­p für im Land produziert­e Impfstoffe (in erster Linie das Präparat von Astra-Zeneca) schneidet die internatio­nale Covax-Initiative von ihrem wichtigste­n Lieferante­n ab. Betroffen sind die mehr als 180 ärmsten Länder des Planeten, die gegenüber den Industrien­ationen mit ihren schnellen Massenbest­ellungen das Nachsehen hatten. Einige habe noch nicht eine einzige Dosis erhalten.

Das Problem konzentrie­rt sich abermals auf fünf bis sechs Staaten, darunter mit 57 Prozent Maharashtr­a mit der Wirtschaft­smetropole Mumbai – und dort trifft es gerade den größten Slum Dharavi.

 ??  ?? Im Gesundheit­szentrum Dharavi in Mumbai kann sich nach der Covid-Impfung noch an einem eigens eingericht­eten Selfie-Point fotografie­ren lassen.
Im Gesundheit­szentrum Dharavi in Mumbai kann sich nach der Covid-Impfung noch an einem eigens eingericht­eten Selfie-Point fotografie­ren lassen.

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